Die Zeit entsteigt den Wellen
Zusammenfassung
In seinem Beitrag über die nordmazedonische Stadt Ohrid und den an sie grenzenden Ohridsee zeichnet der Autor ein poetisches Porträt dieser Region, in welchem sich sowohl die Geschichte der Stadt als auch ihre historische Verbindung mit dem See widerspiegelt. Er spaziert durch die Gegenwart und denkt an den sich heute noch in Ohrid befindenden Bauwerken und Monumenten über deren Vergangenheit nach.
Ich bedanke mich bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Order Museums für das historische Material, das sie mir zur Verfügung gestellt haben.“
Nikola Madzirov
I will arise and go now, for always night and day
I hear lake water lapping with low sounds by the shore;
While I stand on the roadway, or on the pavements grey,
I hear it in the deep heart's core.“1
Die Verwundbarkeit des Wassers
Ein See ist das schönste unvollendete Wasser. Aus dem Flugzeug sieht er aus wie eine offene Wunde zwischen den Falten der alten Erde, wie die kleine Pfütze, über die jedes Kind einmal springen muss, wenn es heranwächst. Ein See bringt nicht die Endlosigkeit des Horizonts hervor; er zeigt die Verwundbarkeit des Wassers, das hilflos an die Berge oder an die Betonbauten der Stadt anschlägt, wie eine Fliege, die im selben Rhythmus an das Fenster stößt, wie ein Fisch, der aus dem Aquarium entkommen will, aus einem Raum, den ihm jemand auf Dauer zugemutet hat, um seine eigene Freiheit zu zeigen. So fühle ich mich manchmal, wenn ich auf dem Kaneo-Felsen am Ohridsee sitze und geduldig darauf warte, dass das Wasser den Raum verlässt, in dem es schon Jahrtausende schläft.
Immer wollte ich nah am Wasser sein, seine Bewegungen betrachten, diese Metapher für das EKG unserer Lebensalter. Der russische Schriftsteller Joseph Brodski hat gesagt: „Nah am Wasser zu sein, zu sehen, wie die Welle um Mitternacht ans Ufer schlägt – das ist für mich, als würde die Zeit dem Wasser entsteigen.“ Neben dem See lebe ich genau zu dieser Zeit des ruhigen Wassers, zur Zeit der Rückkehr zum Hof meiner Kindheit, zur Zeit des Planschens in unhörbaren Wellen und der verlorenen Unschuld.
Die unhörbare Bewegung des Wassers sieht vom hohen Felsen aus wie das unhörbare Gebet des Mönchs, der mit dem Rücken zum schnellen Kalender der echten Zeit steht. Der mazedonische Dichter Mateja Matevski schreibt in seinem Gedicht „See“: „Du bist mein See, eine Ikone, vor langem geboren / von der Palette der Sonne, von den Lippen eines Mönchs … / Und doch bist du ein See, traurig gesenkt in die Landschaft, / Umarmung der Hügel, immer einsame Sonne, / mit einem Ufer, einem Ring, mit nur einem Blick / auf sich selbst starrt er wie der Fels, wie die Flamme.“2
Die wenigen Boote verbinden einander ruhig am Seeufer und ziehen andere Grenzen als die, die wir im Atlas finden. Nichts ist schöner, als zuzusehen, wenn ein Boot im Regen ankommt. Die Passagiere rennen über das Deck, mit ihren Taschen über den Köpfen, schreiten langsam unter dem schmalen Vordach der Kabine, wie Soldaten, die glauben, dass niemand sie im Vollmond sieht. Tatsächlich sind viele Uniformen und Speere am See vorbeigezogen und gefallen. Neue Tempel des Glaubens und des Unglaubens sind entstanden und Alphabete ihres Ausdrucks. Der See ist der Hüter der Zeit geblieben, vor den Gittern der politischen und historischen Grenzen.
Als ich endlich meine Augen geöffnet habe, hätte ich fast aufgeschrien. Vor meinen Augen, wie im schönsten Traum, öffnete sich die gesamte Oberfläche des Sees. Das große Wasser. Zum Teufel, ja, das große Wasser. Das große Wasser war wieder so nah, ich schwöre, es war in uns. Ich umarmte es wie meine eigene Mutter, wie das Liebste in meinem Leben. Und es kam immer näher, in hellen Farben, mit Tausenden von Stimmen, mit Jahrhunderten von Trauer. Es dauerte hunderte Jahrhunderte, um alt zu werden, damit wir unsere Kindheit bewahren.“3
Eine kurze historische Betrachtung der Stadt Ohrid
Die Existenz der antiken Stadt Lychnidos, heute Ohrid, ist mit der Legende vom Phönizierkönig Kadmos verbunden, der aus Theben in Böotien vertrieben wurde und die Stadt am Ufer des Ohridsees gegründet hat. Philipp II., der Vater von Alexander dem Großen, hat sie 353 v. Chr. erobert; damals wurde der Name der Stadt am Ohridsee erstmals erwähnt.
Die Festung in Ohrid trägt den Namen des bulgarischen Zaren Samuil, der zur Zeit seiner Herrschaft Ohrid als Hauptstadt seines Reiches erwählt hat. Die Festung von Ohrid ist das Symbol der Stadt, ohne das ihr urbanes Gesicht und ihre Geschichte nicht denkbar sind, und sie ist eine der größten mittelalterlichen Befestigungsanlagen auf dem Balkan. Seit der Spätantike ist sie unverändert, der mittlere Teil der Festung wurde im späten 10. und frühen 11. Jahrhundert gebaut und ist authentisch erhalten. Das war die Zeit der Herrschaft von Zar Samuil. Nach seinem Tod im Jahr 1014 übernahm Basileios II. Ohrid kampflos, sodass die Festung unbeschädigt blieb. Im Laufe der Geschichte wurde sie mehrfach beschädigt, renoviert und ausgebaut – daher trägt sie die Spuren fast aller historischen Epochen, als über Ohrid die Römer, Byzantiner, Slawen und Osmanen geherrscht haben.
Ohrid war im Mittelalter ein wichtiges kulturelles Zentrum, und die Sophienkirche, die Kathedrale des Erzbistums von Ohrid, ist eines der glänzendsten Denkmäler der mittelalterlichen Architektur und Kunst.
Nachdem die Kirche der Gottesmutter Perivlepta im 15. Jahrhundert (wie auch die Kirche des Heiligen Pantaleon) zu einer Moschee umgewandelt worden war, wurde sie zur Kathedrale erhoben und als Kirche des Heiligen Kliment von Ohrid bekannt. Darin blieb von 1516 bis 1916 die Schatzkammer erhalten, das Museum der Erzbistums Ohrid, eines der ältesten Museen in Europa. Alle Objekte aus der Schatzkammer wurden in diese Kirche gebracht, in der ein „allgemeines Museum“ eingerichtet wurde. Nach Angaben von Historikern hat dieses Museum vermutlich auch nach der Aufhebung des Ohrider Erzbistums 1767 noch bis zum Ersten Weltkrieg bestanden. Dann wurden viele antike Objekte von großem historischem und künstlerischem Wert entnommen und an andere Orte gebracht, wo sie nicht hingehörten. Später wurden die verbliebenen Gegenstände, Zeugen der kulturellen und christlichen Entwicklung und Umgestaltung, in das Haus der Familie Robev gebracht, ein architektonisches Glanzstück am Seeufer, das 1951 unter Denkmalschutz gestellt wurde und allen Besuchern offensteht.
Die Legende besagt, dass Ohrid, das auch das „Jerusalem des Balkans“ genannt wird, 365 Kirchen hatte, eine für jeden Tag im Jahr. Alle haben ihre eigene Geschichte, ihre historische Sprache und ihre Schönheit, aber die Kirche des Heiligen Johannes des Theologen auf dem Kaneo-Felsen ist die spirituellste. Die einschiffige, achteckige Kirche wurde auf einem Felsen über einer Höhlenkirche gebaut, die der Einführung der Gottesmutter in den Tempel geweiht ist. Ihr Bau hatte 1365 begonnen, und die Kirche trägt nicht nur den Namen des Heiligen, sondern auch den des alten Fischerdorfes Kaneo. Ein Teil des Monumentalfilms „Vor dem Regen“ des mazedonischen Regisseurs Milcho Manchevski wurde hier gedreht.
Die Kunsthistorikerin Matova erinnert daran, dass ihr britischer Kollege Sir Herbert Read nach dem Besuch einiger Kirchen am Ohridsee 1961 geschrieben hatte: „Zwischen der byzantinischen Kirchenmalerei aus Ravenna und Sizilien einerseits und der italienischen Renaissance andererseits gibt es keinen leeren Raum; Ohrid ist die bedeutende Brücke der europäischen Kunst.“ Dieser Raum tiefer Meditation vereint in sich Bauten des byzantinischen und des armenischen Stils. Nach dem Zweiten Weltkrieg verschwand die Ikonostase von ihrem Platz in der Kirche. Sie wurde in Frankreich gefunden und zurückgebracht, aber seit fünf Jahren ist sie endgültig verschwunden.
Was von der Geschichte übrig blieb
In die Stadt gelangte man über drei Tore, vollständig erhalten ist jedoch nur das Obere Tor, in das Marmorgrabsteine mit griechischen und lateinischen Inschriften und andere Elemente verbaut wurden, die aus den antiken Bauten von Ohrid stammen. Ein antikes Theater befindet sich am Fuß des Ostabhangs des Berges von Ohrid, unterhalb der Festung von Samuil, gleich neben dem Oberen Tor, von dem aus man einen hypnotisierenden Blick auf den Ohridsee und die Berge werfen kann, die ihn wie ein gerahmtes Bild aus Natur und Zeit umgeben. Das Theater wurde vor mehr als zwei Jahrtausenden gebaut, am Ende des 3. und Anfang des 2. vorchristlichen Jahrhunderts, in der Spätzeit des Hellenismus, und es war für die Aufführung von Dramen, Musik und Gedichten gedacht. Es ist voll von dekorativen Elementen, mit einem Fries von Halbrelief-Platten, auf denen Szenen aus dem Leben der Götter dargestellt sind. Auf zweien dieser Platten, die sich jetzt im Museum von Ohrid befinden, ist Dionysios mit den Musen dargestellt. Einige der damaligen Stadtgrößen haben sich auch eigene Plätze im Theater gekauft, ihre Namen sind noch immer in den Steinblöcken hinter den Sitzen eingemeißelt. Gleich nach der römischen Eroberung 148 v. Chr. wurde das Theater in kürzester Zeit den Bedürfnissen der römischen Lebensart angepasst und in eine Arena für Gladiatorenkämpfe und für Tierhetzen umgebaut.
Man glaubt, dass der Heilige Erasmus von Antiochien, auch bekannt als der Heilige Erasmus von Ohrid, der erste christliche Missionar, der Ende des 3. Jahrhunderts nach Ohrid gekommen ist, mehr als 30.000 Menschen bekehrt hat und dass damals alle „heidnischen“ Objekte in der Stadt zerstört wurden. Sehr wahrscheinlich hat das Theater bei diesen Zerstörungen großen Schaden erlitten, und das Material von seinen Sitzen und anderen Teilen wurde später für den Bau der frühchristlichen Basiliken und anderer sakraler und profaner Objekte verwendet. Seit Beginn dieses Jahrhunderts werden auf der Bühne des rekonstruierten offenen Raumes der alten Theaters nach zweitausend Jahren wieder Dramen gezeigt und Konzerte gespielt, vor allem als Teil des Festivalprogramms des „Ohrider Kultursommers“.
Zwischen der Festung auf dem Berg und der Kirche des Heiligen Johannes am Seeufer schläft seit Jahrhunderten der mystische Plaoschnik – ein hervorragender archäologischer Komplex mit Schichten aus der Vorgeschichte, der Antike und dem Mittelalter. Im Laufe der Ausgrabungen wurden eine frühchristliche Basilika und eine Taufkapelle in Form eine Rechtecks entdeckt, in dessen Mitte ein rundes Becken für die Taufe war. Das Bodenmosaik besteht aus geometrischen Schmuckformen und symbolischen pflanzen- und tierähnlichen Formen – eine Weintraube, Laub, Blumen und realistischen Darstellungen eines Lammes, eines Löwen, eines Pfaus, eines Hahns und eines Wasservogels.
Auf der anderen Seite des Sees, an der albanischen Grenze, ist das Kloster des Heiligen Naum, des Wundertäters von Ohrid, das am Anfang des 10. Jahrhunderts von demselben Naum von Ohrid erbaut wurde, der als Lehrer und Organisator des kirchlichen Lebens, der Bildung und der Kultur bekannt war. Er war ebenso wie der Heilige Kliment von Ohrid ein Schüler von Kyrill und Method und ein Mitarbeiter Kliments, außerdem einer der Begründer der Schule von Preslaw, in der er von 886 bis 893 unterrichtete, und er hat auch in der Schule von Ohrid unterrichtet. Naum und Kliment haben in Ohrid die erste allslawische Universität gegründet, an der mehr als 3.000 Studenten studiert haben. Die theologischen Bücher, die in Ohrid geschrieben wurden, lassen sich in allen orthodoxen theologischen Bibliotheken finden. Sie waren in kyrillischer Schrift verfasst und waren die Grundlage des orthodoxen Christentums. In Ohrid hat Kliment die Kathedrale in Plaoschnik errichtet, und Naum hat ein Kloster am vielleicht schönsten Abschnitt des Seeufers gebaut, dort wo die Quellen des Sees sind. In diesem Kloster hat Naum die letzten Jahre seines Lebens verbracht, dort wurde er 910 auch bestattet. Bis heute kommen Menschen, um sein Grab zu besuchen. Sie knien vor der Steinplatte und legen ihr Ohr darauf, in der Erwartung, den Herzschlag von Naum zu hören. In diesem Rhythmus schlagen die Wellen des Sees auf den Felsen, auf dem das Kloster erbaut ist.
Nicht weit vom Kloster, in der „Knochenbucht“, wurde in einer Tiefe von drei bis fünf Metern eine große Zahl von Holzpfählen entdeckt, die in den Grund des Sees geschlagen wurden, dazu archäologisches Material aus der späten Bronzezeit oder der frühen Eisenzeit. Pfahlbauten über dem Wasser sind besonders typisch für die vorgeschichtliche Zeit, seit der Jungsteinzeit. Wahrscheinlich kommen diese (und andere) Siedlungen am Ohridsee aus einer Zeit, als die ersten Stämme sich herauszubilden begannen. Die Siedlung war auf einer Plattform auf Pfählen erbaut, die in den Seeboden eingelassen waren, und mit dem Festland war sie durch eine Holzbrücke verbunden. Auf dem Grund des Sees findet sich bei dieser Siedlung auch eine eindrucksvolle Konzentration von ganzen und zerbrochenen Keramikgefäßen, Steinobjekten und Teilen von Tierknochen, ebenso runde Keramikplatten, von denen man glaubt, sie seien ein Fischfanggerät der Bewohner der Siedlung gewesen. Heute sind mehr als zwanzig vorgeschichtliche Häuser auf einer Holzfläche über dem See rekonstruiert, wie auch ein römisches castrum aus dem 3. Jahrhundert – wie zwei Ufer der Zeit, die über dem unendlichen Horizont des stillen Wassers verbunden sind. Gaston Bachelard sagt: „Im tiefen Wasser zu verschwinden, oder in einen fernen Horizont zu verschwinden, Teil der Tiefe der Unendlichkeit zu werden, das ist das Menschenschicksal, das sein Bild im Schicksal des Wassers findet.“4
Der Berg Galitschitza liegt wie ein Messer zwischen dem Ohridsee und dem Prespansee, die es nicht ganz durchschnitten hat, sondern es gestattet demselben Wasser, durch beide Seen unter dem Berg zu fließen. Das Wasser erinnert sich an alles. Czesław Miłosz sagt in seinem Gedicht „Dies“: „Ich rufe die Flüsse zu Hilfe, in denen ich geschwommen bin, die Seen“… Seen sind ziemlich tief, sodass sie allen menschlichen Ärger und Ambitionen aufnehmen können, sie sind die Seele des Landes, in dem wir eines Tages alle begraben sein werden.
Der Ohrid-See und sein Gedächtnis
Nach einigen Stunden kann sie niemand mehr daran hindern, über das Wasser zu fliegen. Ihre Flügel sind stark wie die Flügel einer jungen Möwe, die hier geboren wurde, in den warmen Nestern auf den alten Felsen und Kliffs. Das schreckliche Geräusch der Wellen, die starken Gewitter in jener Nacht, als sie auf die Welt gekommen ist, diese große Angst, die Unsicherheit verliert sich im selben Augenblick, in dem Moment, wenn ihr heller, leichter Flügel die zauberhafte Unendlichkeit der Räume leicht berühren wird.“5
„Wasser erinnert sich an mehr als ein Museum“, habe ich einmal geschrieben. In Paris habe ich neben dem Kanal Saint-Martin gelebt, zu einer Zeit, als er gereinigt werden sollte – einmal alle fünfzehn Jahre. Er war schon abgelassen, und das Fehlen des Wasser-Palimpsestes hat viele Gegenstände auf dem Boden des Kanals offengelegt – Fahrräder, Wanduhren, Fernseher – die so hilflos und entblößt im Kanal ohne Wasser ausgesehen haben wie wertlose Denkmäler des Alltags. Die Uhr hat die Zeit nicht gemessen, der Fernseher keine Kriegshandlungen gezeigt, und das Fahrrad hat die alte Luft zwischen den Metalldrähten der Räder bewahrt. In diesem neuen „System der Objekte“, um den französischen Philosophen Jean Baudrillard zu zitieren, verbarg sich eine alternative Sprache der Stadt, ohne die Kamera für die kurzfristigen Erinnerungen der Touristen. Das Wasser der Seine hat im Namen der Straßen und der entleerten Kanäle gesprochen, es war eine Träne des großen Auges der Menschheit. Leider ist der Ohridsee an der Schwelle, sich in ein unsichtbares Museum des verlorenen menschlichen Bewusstseins und der vererbten Unnatürlichkeit zu verwandeln. Taucher bringen von seinem Grund Gegenstände, die sich miteinander nicht verbinden lassen, weder nach ihrer Verwendung noch nach ihrer Ästhetik. Was sie verbindet, ist einzig die Dummheit der verborgenen Ansammlung von Unnützem.
1979 wurde der Ohridsee als geschütztes Gebiet in die UNESCO-Liste aufgenommen, wegen seines Alters und der Sauberkeit des Sees, und wegen der reichen spirituellen und zivilisatorischen Kontinuität. Aber in den letzten Jahren verlangte die UNESCO den umgehenden Abriss von bereits gebauten illegalen Bauwerken und die bedingungslose Beachtung des Moratoriums für architektonische Experimente am Ufer. Die „Stadt der 365 Kirchen“, die „Geburtsstätte der slawischen Schriftlichkeit“ wird immer noch von nicht authentischen Interventionen im alten Teil der Stadt mit ihren Straßen und Häusern bedroht, mitten im Zentrum der Architektur von Ohrid. Es ist ein neues Alphabet der Betonierung des Ufers des Ohridsees außerhalb der Stadtgebiete entstanden. Es ist auch die letzte Warnung der UNESCO eingetroffen: Ohrid wurde einstweilen noch nicht auf die Welterbe-Gefahrenliste gesetzt und hat eine kurze Atempause erhalten, um alle Wunden am Seeufer zu heilen.
Dennoch ist der See ruhig. Er hat alle Eroberer und alle Sprachen überlebt, die in seinem Inneren gestorben sind und im rituellen Rund des Ufers wieder geboren wurden. Er hat das Gebet des Mönchs überlebt, das in den Wellen der Zeiten oder auf dem Grund eines der tiefsten und ältesten europäischen Seen verrichtet wurde. Der Ohridsee lebt wie eine verlorene Perle im Schoß der ihn umgebenden Berge, wobei er in sich die Stille von zweihundert Sorten endemischer Pflanzen und Tiere bewahrt. Er achtet auf das Geheimnis seiner smaragdgründen Farbe, auf das Geheimnis der Muscheln und der Ohridperlen. Er glaubt, dass eine Perle entsteht, wenn ein Blitz in eine Muschel eindringt, wenn sie Wasser und Feuer in sich vereint, und dieser alte östliche Mythos vom Entstehen der Perlen hat dem Heiligen Ephräm zur Illustrierung der jungfräulichen Geburt Christi gedient. So sagt der rumänische Religionsphilosoph Mircea Eliade in „Images and Symbols“: „Das Wasser symbolisiert die Gesamtheit des Virtuellen, das sind fons und origo, ein gemeinsamer Ort aller Möglichkeiten von Existenz; es geht jeder Form voraus und dient als Grundlage jeden Schaffens. Das paradigmatische Bild jeder Schöpfung ist die Insel, die plötzlich aus den Wellen ‚auftaucht‘. Andererseits bedeutete das Eintauchen ins Wasser die Rückkehr in die ursprüngliche Gestaltlosigkeit, in die undifferenzierte Form der Vor-Existenz … Daher bedeutet die Symbolik des Wassers den Tod und die Wiedergeburt.“
Eliade würde wohl glauben, dass das Licht von Neuem in den dunklen Mönchszellen in den Höhlen um den See geboren wird, dass Blitze in die Felsen eingeschlagen haben und die Fresken in den Zellen entstanden sind, dass der Blitz so zur inneren metaphysischen Helligkeit des menschlichen Geistes zurückkehrt, wie der Regen laut zum See zurückkehrt. Im Mazedonischen sagt man, wenn es regnet, dass der Regen „vrne“, das heißt zurückkehrt oder heimkehrt. Innerhalb der Sprache kehrt so der Regen zum See zurück, als würde die Perle zur Unsichtbarkeit in der Schale der Muschel zurückkehren. Ich bin zum See zurückgekehrt, um mein Buch „Versetzter Stein“ zu beenden, das ich in Wien begonnen habe, das durch Berlin gereist und auf dem Kaneo gereift ist, auf dem Felsen der archetypischen Einsamkeit über dem Ohridsee im kalten Winter, als das Schweigen die Wärme getragen hat. Der mazedonische Dramatiker Goran Stefanovski, der 2018 in England gestorben ist, wollte, dass seine Asche über dem Ohridsee verstreut wird. Zurückkehren, sich dort auf Dauer einzurichten, wo die Zeit von Neuem geboren wird.
Deutsch von Thomas Bremer.
Fußnoten:
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William Butler Yeats, „The Lake Isle Of Innisfree“. Frei übersetzt: „Ich werde aufstehen und nun gehen, bei Nacht und am Tag, immer. Ich höre Seewasser mit leisen Tönen am Ufer plätschern, während ich auf der Fahrbahn stehe oder auf dem Grau der Bürgersteige. Ich höre es in der Tiefe meines Herzens.“ ↩︎
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Aus dem Mazedonischen von Matthias Bronisch. ↩︎
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Živko Čingo: Velika Voda (Das Große Wasser). ↩︎
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Gaston Bachelard: Water and Dreams. ↩︎
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Čingo (wie Anm. 3, oben bzw. S. 287 der gedruckten Ausgabe). ↩︎