Innenpolitik in der Sackgasse
Zusammenfassung
Man vermutete, dass das Interesse an der Präsidentschaftswahl im stillen Belarus gering sein würde und sich der „ewige Führer“ Alexander Lukaschenko wieder zum Präsidenten ausruft. Der Wahlausgang überraschte jedoch alle: Obwohl es im Land schon seit langem keine konkurrierende Politik mehr gibt, hat sich die Gesellschaft stark politisiert, was sich in massiver Unzufriedenheit ausdrückt. Sogar nach offiziellen Angaben war das Vertrauen in Lukaschenko schon vor den Wahlen auf 24 Prozent gesunken. Befragungen auf populären Internetportalen zeigten, dass für ihn lediglich drei bis sechs Prozent der Wahlberechtigten zu stimmen bereit waren.
Warum hat Lukaschenko so an Popularität eingebüßt?
Die Menschen sind unendlich müde von dem immer gleichen Gesicht im Fernsehen, von der Macht, die sich alles herausnehmen darf. In der Wirtschaft gibt es eine langjährige Stagnation, in der Gesellschaft eine Spaltung und Depression.
Zu den Gegnern des Präsidenten gehören zum ersten Mal sehr viele Belarussen mit niedrigen Einkünften und Pensionäre. Früher unterhielten sie mit der Führung einen ungeschriebenen Sozialvertrag: Wir mischen uns nicht in die Politik ein und ihr sichert uns niedrige, aber stabile Gehälter und Renten. Das wurde vor allem mit Hilfe Moskauer Kredite und preisgünstiger Energieträger erreicht, aber auch mit Hilfe eines anspruchslosen russischen Marktes, der sich die belarussischen Produkte einverleibte. Aber in letzter Zeit wurde es für das Regime immer schwieriger, diesen Vertrag zu erfüllen. Die Wirtschaftslage in Belarus verschlechterte sich in erster Linie wegen der Krise in Russland. In Verbindung mit dem Verfall des Ölpreises sanken auch wichtige Einkünfte des Landes aus der Ölverarbeitung. Belarus ist ein exportorientierter Staat, und die Rezession der Weltwirtschaft infolge der Pandemie führte zu einem zusätzlichen Verfall der Einkünfte. Hatte man vor zehn Jahren ein durchschnittliches Einkommen von 500 US-Dollar erreicht, das schon die Höchstgrenze für die nicht reformierte Wirtschaft darstellte, so ist diese Summe heute nicht mehr zu erreichen.
Die Staatsunternehmen umfassen rund 70 Prozent der Wirtschaft und benötigen laufend Subventionen. Die Arbeitslosigkeit wächst schnell, und das besonders in den Regionen. Um etwas dazu zu verdienen, reist heute jeder neunte arbeitsfähige Belarusse ins Ausland. In den letzten Jahren hat das Regime versucht, die Industrie durch eine grundlegende staatliche Modernisierung zu beleben. Das Projekt scheitert jedoch an dem erfolglosen sowjetischen Management.
Lukaschenko ist zwar ein gewiefter Taktiker, konnte aber der Gesellschaft noch nie Strategien anbieten, um den Staat zu entwickeln.
Covid auf belarussisch
Die Mehrheit der Belarussen unterstützte weder den Beschluss Lukaschenkos, sich den „Covid-Dissidenten“ anzuschließen, noch seinen Vorschlag, das Virus mit „Sauna, Wodka und dem Traktor“ zu heilen. Der Diktator nennt die Pandemie eine Psychose. In Belarus werden auch weiterhin Sportturniere durchgeführt, die Restaurants sind offen, Studenten und Schüler gehen zum Unterricht.
Nach der Zahl der Infizierten pro Kopf der Bevölkerung liegt das Land in Europa ganz oben, aber die Propaganda bekräftigt, dass an Covid-19 acht- bis zehnmal weniger Menschen sterben als in der EU. Das Verhalten des Regimes zur Zeit der Pandemie führte zu einer breiten Empörung und brachte während des Wahlkampfs sogar Bürger auf die Straße, die früher passiv geblieben waren.
Ein Präsident aus der Vergangenheit
Lukaschenko kam als Kämpfer gegen die Korruption und als Verteidiger des einfachen Volkes an die Macht. Er hat eine sowjetische Mentalität, und das fand für lange Zeit bei Millionen von Belarussen Zustimmung, die sich nach der UdSSR zurücksehnten. Aber die Welt hat sich längst verändert, sie trat in eine digitale Epoche ein, und der Diktator versteht sein modernes und gebildetes Volk immer weniger. Mehr als 80 Prozent der Bevölkerung erhalten heute ihre Informationen aus dem Internet und nicht aus den anachronistischen Fernsehkanälen. Bei uns scherzt man, dass das Bild im belarussischen Fernseher für einen Menschen gemacht wird, und wir kennen alle seinen Namen.
Das Land nimmt in der Region bei der Entwicklung der Informationstechnologien und beim Zugang zum schnellen Internet eine führende Position ein. Die Belarussen befinden sich nach der Zahl der erhaltenen Schengen-Visa pro Kopf der Bevölkerung auf dem ersten Platz in der Welt. Sie wissen, wie die westlichen Staaten leben und wie sich die Länder entwickeln, die EU-Neumitglieder sind.
Die junge Generation ist durch die Perspektivlosigkeit ihrer Zukunft beunruhigt und richtet sich immer stärker auf Emigration aus.
Die Wahlkampagne
Für die Wählerschaft war das Schlüsselthema der Wahlen von 2020 der Ausweg aus der Stagnation. Lukaschenko suchte sich diesmal im Wahlkampf nicht die traditionelle Rolle eines Garanten von Stabilität und Frieden aus, sondern die eines Verteidigers der Unabhängigkeit. Anfangs unter dem Slogan „Der Kreml ist gegen unsere Souveränität“, aber nach dem Beginn der Massenproteste und der Begegnung mit Putin wurden der Westen und die Nato zum Hauptfeind, die „das Land in Stücke reißen wollen“.
Es war offensichtlich, dass der Diktator kaum begreift, dass ihm nicht nur Putin und die Netztechnologien drohen, sondern auch das eigene Volk, das Veränderungen wünscht, Reformen und Freiheit. Am Ende des Wahlkampfes wurde die Regierung so unpopulär, dass der Wunsch „Jeder Beliebige, nur nicht Er!“ zur wichtigsten Losung wurde.
Während seiner Regierungszeit hatte Lukaschenko tatsächlich niemals an einem Präsidentschaftswahlkampf teilgenommen, sondern sich demonstrativ mit laufenden Angelegenheiten beschäftigt. Aber diesmal, als die Beliebtheitswerte fielen und sich die Gefahr massenhafter Straßenproteste abzeichnete, musste sich das Regime von dem Szenarium eines „eleganten“ Sieges verabschieden und sich mit der „Neutralisierung“ des Wahlergebnisses beschäftigen. Einige Anführer des Protestes kamen hinter Gitter, andere verließen das Land, um dem Arrest zu entkommen. Den Wahlkampf leiteten drei Frauen von den drei Stäben der „Kandidaten der Hoffnung“, an der Spitze Swetlana Tichanowskaja.
Proteste und Repressionen
Die ersten breiten Proteste hingen mit der Verhaftung führender alternativer Kandidaten zusammen. Zu einem wirklichen Ausbruch massenhafter Empörung kam es, als Lukaschenko seinen Wahlsieg ausrief, mit dem Lieblingsergebnis des Diktators – über 80 Prozent. Die Belarussen befiel ein Gefühl der Erniedrigung, denn sie wussten genau, dass der „ewige Präsident“ die Wahl verloren hatte. Noch in der Nacht nach der Abstimmung kam es zu großen Demonstrationen, die eine ehrliche Stimmenauszählung, die Freilassung politischer Gefangener und den Rücktritt Lukaschenkos forderten. Im Verlauf der folgenden hundert Tage nahmen an diesen beispiellosen Protesten im ganzen Land mehr als eine Million belarussischer Bürger teil.
Das Regime antwortete auf die friedlichen Aktionen bezeichnenderweise mit brutalen Repressionen, für die Lukaschenko das Startzeichen gab, als er seinen Generälen öffentlich erklärte, jetzt gehe es nicht mehr darum, die Gesetze einzuhalten. Bis Mitte November 2020 wurden wegen der Teilnahme an den Protesten nicht weniger als 18.000 Menschen festgenommen, mehr als 900 Personen wurden wegen angeblicher Straftaten aus politischen Motiven beschuldigt. Mindestens vier Menschen starben unter unklaren Umständen, tausende wurden verletzt und Folterungen sowie blutiger Gewalt unterzogen.
An einen solchen Terror erinnert sich Belarus seit der Zeit des Stalinismus nicht.
Die belarussische Revolution
Die belarussische „Revolution der Würde“ des Jahres 2020 geht ihrem Charakter nach vom Volk aus. Die Belarussen setzen sich damit für ihr Recht ein, in Freiheit, Wahrheit und Gerechtigkeit zu leben. Dank des friedlichen Charakters der Massenproteste vollzogen sich historische Veränderungen in der Gesellschaft – eine breite nationale Wiedergeburt, die Stärkung der Identität, des Gefühls von Solidarität und der bürgerlichen Verantwortlichkeit. Millionen überwanden das Gefühl der Angst. In diesen Monaten formierte sich im Land eine politische europäische Nation, die sich endgültig von ihrer postsowjetischen Vergangenheit verabschiedet hat.
Die belarussischen Proteste lassen sich nicht mit dem ukrainischen Euromajdan von 2013/14 vergleichen, weil dieser eine geopolitische Revolution gewesen ist. Man kann Parallelen zum Majdan des Jahres 2004 anführen, weil dieser ebenfalls eine Wahlrevolution darstellte. Aber die großen Unterschiede sind deutlich.1 In der Zeit der „Orangenen Revolution“ 2004 gab es in der Ukraine einen weichen Autoritarismus, dagegen in Minsk 2020 eine harte personalistische Autokratie. In Kiew gab es eine Systemopposition im Parlament und ein unabhängiges Fernsehen, in Belarus hingegen keinen einzigen unabhängigen Abgeordneten und nicht einen Kanal freier Fernsehübertragung. In Kiew sorgten einflussreiche Oligarchen für die Spaltung der herrschenden Elite, in Minsk gibt es sie einfach nicht. Außerdem hat sich die Macht in Belarus noch zusätzlich konsolidiert, weil die Mehrheit ihrer Vertreter keine Perspektive sieht, ihre Positionen in einer zukünftigen Demokratie zu behalten.
Die belarussischen Proteste von 2020 beeindrucken durch ihre Einigkeit, ihre Disziplin und ihre positive Atmosphäre. Sie sind gut organisiert durch die vom Regime nicht kontrollierbaren sozialen Netze.
Die Stunde der Frauen
In Belarus spielten die Frauen eine entscheidende Rolle. Sie standen im Zentrum der Aufmerksamkeit, gerade ihr Auftreten war ein deutlicher Vorwurf gegen den Sicherheitsapparat und gab den Protesten weiteren Auftrieb. Lukaschenko goss zusätzlich Öl ins Feuer, als er unüberlegt sagte: „Unsere Verfassung ist nicht für eine Frau Präsidentin geschrieben.“ Das weibliche Gesicht der belarussischen Proteste widerlegte deutlich die archaischen Ansichten des Diktators.
Die belarussische Revolution weist eine Analogie zu den Protesten in den baltischen Ländern am Ende der Perestrojka und in Polen von 1980 auf, als dort gegen die kommunistische Diktatur gekämpft wurde. Wie damals unsere Nachbarn, so will der Kreml auch heute Belarus unter seiner vollständigen Kontrolle halten, und die mit dem Tode ringende Regierung versucht, das Streben des Volkes nach Freiheit zu unterdrücken.
Die Massenproteste unter den historischen Nationalflaggen haben die Moskauer Pläne, einen kontrollierten Machtwechsel in Belarus auf den Weg zu bringen, durcheinandergebracht. Lukaschenko ruft den Sicherheitsapparat auf, „nicht nachzugeben“, und unter dem Druck Putins sieht er sich gezwungen, von einer Verfassungsreform mit Übergabe der Vollmachten vom Präsidenten an das Parlament zu sprechen. Dort sollen nach dem Plan des Kremls mit der Zeit die prorussischen Fraktionen dominieren.
Im Westen und in Russland gibt es einen Konsens darüber, dass ein innerbelarussischer Dialog notwendig ist. Die belarussische Zivilgesellschaft findet, dass er nur möglich wäre, wenn bestimmte Bedingungen erfüllt werden: die Freilassung politischer Gefangener und ein Ende der Repression. Der Westen setzt sich für einen breiten inklusiven Dialog ein, Moskau und Lukaschenko hingegen würden einen dekorativen Dialog mit der „richtigen Opposition“ bevorzugen.
Das Hauptproblem des belarussischen Konfliktes besteht jetzt jedoch nicht einmal in unterschiedlichen Interessen und Ansätzen der verschiedenen Seiten, sondern darin, dass das Regime die Situation unangemessen wahrnimmt. Lukaschenko versteht den Kern der Forderungen der Gesellschaft nicht und behandelt die Ereignisse im Land wie eine von außen angestachelte Rebellion, die es mit Hilfe von Repressionen niederzuschlagen gilt. Die andauernde Gewalt vermehrt nur den Zorn in der Gesellschaft – und umso stärker wird die Angst der Machtelite vor der Vergeltung sein. Dadurch steckt die innenpolitische Lage in einer Sackgasse.
Unter Lukaschenko sind Stabilität und ein Ende der blutigen Gewalt nicht mehr möglich. Einflussreiche äußere Kräfte werden gebraucht, die es auf sich nehmen, einen Prozess der Konfliktregulierung zu organisieren. Die Perspektiven für eine Demokratisierung in Belarus und die Stabilität in der Region hängen in vielem von der Prinzipientreue und den Aktivitäten des Westens ab.
Aus dem Russischen übersetzt von Friedemann Kluge.
Fußnote:
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Zur „Orangenen Revolution“ in der Ukraine 2004 vgl. auch die Analyse von Katrin Boeckh: Ukraine 2000plus: Revolutionen ohne Ende? In: OST-WEST. Europäische Perspektiven 15 (2014), H. 4, S. 242 - 252 (der gedruckten Ausgabe). ↩︎