Jahrzehnte konkreter Hilfe vor Ort

Was mit Tschernobyl in Belarus begonnen hat
aus OWEP 1/2021  •  von Christine Haiden

Dr. Christine Haiden ist Chefredakteurin der österreichischen Zeitschrift „Welt der Frauen“ (www.welt-der-frauen.at) in Linz. Sie begleitet und unterstützt die Caritas-Arbeit in Belarus seit Beginn der 1990er Jahre. – Die Bilder im Beitrag stellte Bruder Korneliusz Konsek SVD zur Verfügung, dem dafür an dieser Stelle gedankt sei.

Zusammenfassung

Mit der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl 1986 wurde vielen in Westeuropa erstmals bewusst, dass es ein Land namens „Weißrussland“ gibt. Zahlreiche Organisationen wie etwa die Caritas Linz engagieren sich seit bald dreißig Jahren im heutigen Belarus, zuerst für die Opfer von Tschernobyl, heute besonders für Menschen mit Beeinträchtigungen.

Unvergessen sind mir meine ersten Eindrücke Anfang der 1990er Jahre: Es gab keine Medikamente, keine Kindernahrung, keine Windeln – die ersten Hilferufe, die aus Belarus nach Deutschland und Österreich gelangten, ließen auf Mangel schließen. Doch es war mehr. Meine ersten Reisen in das vom übrigen Europa noch weitgehend abgeschnittene Land zwischen Polen, Russland und der Ukraine förderten Katastrophales zutage. Im April 1986 hatte die postsowjetische Republik rund 70 Prozent des radioaktiven Regens nach dem Reaktorbrand im grenznahen ukrainischen Atomkraftwerk in Tschernobyl abgekommen. Aus den Gegenden südlich der Stadt Gomel waren tausende Menschen umgesiedelt worden. Die Opposition im Land machte öffentlich, dass die Krebserkrankungen bei Kindern enorm anstiegen, vor allem solche der Schilddrüse. Valide Zahlen dazu waren damals und sind heute schwer zu bekommen. Die Verbindung von Mangelwirtschaft und gesundheitlicher Krise erwies sich besonders für die Lage der Kinder als dramatisch.

Zusammen mit der Zeitschrift „Welt der Frau“ und Frauenorganisationen aus Österreich organisierte die Caritas Linz lebensnotwendige Hilfe und Ferienreisen tausender Kinder nach Österreich so wie zahlreiche andere Initiativen in Deutschland. Diese unterstützten sie nicht nur mit guter Luft, nahrhaftem Essen und Ferienspaß, sondern ermöglichten auch nachhaltige Kontakte und das Kennenlernen einer ganz anderen Kultur. Ich vermute, dass viele dieser Kinder heute als Erwachsene sich in der Protestbewegung engagieren. Sie haben kennengelernt, was eine offene Gesellschaft ist.

Vergessene Randgruppe

Setzte man zuerst von Seiten der Caritas in der Zusammenarbeit nur auf ehrenamtliche Gruppen in Belarus, bildete sich im Laufe der Jahre eine tragfähige Caritas-Organisation im Land aus. Sie ist bis heute Partnerin internationaler Organisationen und Basis der weiteren Entwicklungen. Auch in der Caritas Belarus gibt es „lebende Legenden“. Dazu zählen Pfarrer Slawomir Laskowski und Caritas-Mitarbeiterin Valentina Koslowa. Zusammen bildeten sie die erste Caritas in Gomel. Die beiden haben praktisch im Alleingang das Kinderdorf Gomel auf die Beine gestellt. Um die Dimension zu verstehen, ist es gut sich zu vergegenwärtigen, dass in Belarus behinderte Menschen bis vor wenigen Jahren entweder bei den Familien oder in Heimen – weit abgelegen und isoliert – untergebracht waren. Sie in ihrer Entwicklung zu fördern, ihre Eigenständigkeit zu unterstützen, ihnen zu helfen, ein sinnvolles Leben gestalten zu können, lag außerhalb des staatlichen Auftrages. Vielleicht war es bei der Caritas am Anfang eine ganz naiv verstandene Pflicht aus christlicher Nächstenliebe, auch diesen Menschen helfen zu wollen. Aber schnell wurde es zu einem ehrgeizigen Projekt, das heute im ganzen Land Vorzeigestatus hat. Dafür gibt es mehrere Gründe.

Enge Kooperation mit Oberösterreich

Von den beiden Pionierpersönlichkeiten in Gomel war schon die Rede. Da die Caritas Gomel selbst ohne jede Ressource personeller oder finanzieller Art dastand, war von Anfang an die tatkräftige und zuverlässige Partnerschaft mit anderen Caritasorganisationen und Renovabis sowie lokalen Sozialbehörden wichtig. Die Caritas Linz brachte ihre Expertise in allen Phasen des Baus, des Aufbaus einer Organisation, vor allem aber auch in der therapeutischen und pädagogischen Praxis ein. Als Betreiberin mehrerer Einrichtungen für Menschen mit Beeinträchtigungen konnte sie ihre eigenen Expertinnen und Experten wiederholt mit den Verantwortlichen in Belarus in Kontakt und in Austausch bringen. Für manche Linzer Caritasmitarbeiter wurde das Projekt eine so große Herzensangelegenheit, dass sie dafür bis heute ehrenamtlich arbeiten und sogar ihre Ferien opfern.

Blick auf das Kinderdorf im Winter

Der Bau des Kinderdorfes in Gomel war eine riesige Herausforderung für eine Organisation, die damals nur aus zwei Personen bestand. Die erste Hürde bestand darin, von der Stadt zunächst ein passendes Grundstück für den Bau zu bekommen. Dass der erste Vorschlag ein Grundstück vierzig Kilometer außerhalb der Stadt war, kann durchaus symbolisch verstanden werden: Menschen mit Beeinträchtigungen gehörten einfach nicht dazu. Mit Geschick und Zähigkeit konnte schließlich ein Grundstück in der Stadt gefunden werden. Der Bau des Kinderdorfes erforderte nicht nur bautechnische und logistische Kenntnisse, sondern auch einen geschickten Umgang mit den lokalen Behörden und Firmen – eine Hürde, die gelegentlich zu Anfällen von Verzweiflung bei den Verantwortlichen führte, aber schließlich auch genommen werden konnte. Von Anfang an war es der Caritas wichtig, das Projekt nicht als Privatangelegenheit zu sehen. Die staatlichen Behörden waren in alle Schritte eingebunden. Vor allem aber konnte man erreichen, dass es schon vor Baubeginn die Zusage gab, dass der Staat die Betriebskosten der künftigen Einrichtung tragen würde. Diese Zusage hat gehalten. Bis heute ist das Kinderdorf Gomel die einzige nichtstaatliche Einrichtung im ganzen Land, deren Betriebskosten übernommen werden.

Neue Standards

Ein besonderes Ziel war es, ein Modell zu schaffen, das für ähnliche Einrichtungen in Belarus zum Vorbild werden könnte, wie ein zeitgemäßer inklusiver Umgang mit behinderten Menschen aussieht. Dazu brauchte es einen konkreten Ort, aber auch ein entsprechendes Ausbildungsangebot. Bis heute kommen zahlreiche Exkursionen aus ganz Belarus nach Gomel, um die dort erreichten Standards kennenzulernen. Als erster – und bisher einziger – Einrichtung in Belarus wurden in Gomel familienähnliche Wohngruppen eingesetzt. Neu ist auch, dass Bewohnerinnen und Bewohner des Kinderdorfes außerhalb zur Schule gehen, eine Beschäftigung haben und bei der Gestaltung ihres Lebensalltags aktiv mitentscheiden können. All das hat sich auch auf die Situation anderer Menschen mit Beeinträchtigungen in Belarus positiv ausgewirkt.

Die nächste Entwicklungsstufe

2011 konnte das Kinderdorf für 60 Bewohner nach fast neun Jahren Vor- und Bauarbeit eröffnet werden. Ohne die große finanzielle Unterstützung von Renovabis wäre das nicht möglich gewesen. Für den Betrieb des Hauses waren Ordensschwestern aus Polen gekommen – ihre Anwesenheit und ihre Arbeit ist bis heute Herzstück der Qualität der Betreuung. Aber es gab auch Kritik an dem Projekt. So wurde von einigen Belarussen die Frage gestellt, ob Menschen mit Beeinträchtigungen bessere Wohnbedingungen haben sollten als viele ihrer anderen Landsleute. Westliche Kritiker bemängelten, ob so große stationäre Einrichtungen noch dem aktuellen Stand inklusiver Betreuung entsprachen. Am Ende blieb der Wunsch im Vordergrund, ein Leuchtturmprojekt für Belarus zu schaffen und auf diese Weise auch eine Brücke zwischen den Standards in Ost und West. Das scheint gelungen zu sein. Die Schwierigkeiten wurden bald von rührenden und heiteren Geschichten überlagert. So erzählte ein neu ins Kinderheim eingezogener Bewohner, er habe zwei Stunden lang seine Zähne geputzt, weil er die erste Zahnbürste seines Lebens in Händen gehalten habe.

Beispiel für die Therapieangebote mit behinderten Kindern

Aber es bleibt viel zu tun. Als nächster Schritt wird 2021 in Gomel ein Integratives Bildungs- und Therapiezentrum für Kinder und junge Erwachsene errichtet. Es befindet sich auf dem Gelände des Kinderdorfes. Das Anliegen ist, Kinder und Erwachsene mit Beeinträchtigungen, die in Familien wohnen, mit Angeboten zur Therapie und Beschäftigung zu versorgen. Außerdem sollen Beratung und Begleitung für Eltern angeboten werden und die Schulung von Fachpersonal wird verstärkt.

Bis heute scheitern viele Versuche, Menschen mit Beeinträchtigung in den Arbeitsmarkt zu integrieren, an baulichen, strukturellen und gesellschaftlichen Barrieren. Von 8.000 Kindern, die in Belarus in Kinderheimen leben, haben mehr als die Hälfte Behinderungen. Der Bedarf an Wissen und Veränderungen bleibt also nach wie vor riesig. Geplant ist, ungefähr 180 Kinder mit Mehrfachbehinderungen, 150 junge Erwachsene und 30 Erwachsene mit Mehrfachbehinderungen sowie Familien und Angehörige im Jahr zu erreichen. 70 Angestellte sollen im Zentrum selbst aktiv sein, für 100 Angestellte aus anderen Einrichtungen sowie für Freiwillige und lokale Behörden soll das Zentrum Anlaufstelle sein.

Arbeit unter schwierigen Rahmenbedingungen

Die Caritas Belarus ist wie die katholische Kirche vor allem in der polnischen Bevölkerungsgruppe verankert. Trotz der aktuellen gesellschaftlichen und politischen Krise, von der auch viele Amtsträger der katholischen Kirche betroffen sind, versuchen die Caritasmitarbeiter, sich unbeirrt auf ihre Arbeit zu konzentrieren. Es gehe, beteuern sie, in ihrer Arbeit um Liebe und nicht um Politik. Das stimmt sicher so. Tatsächlich kann man aber auch mit Liebe Politik machen. Denn dazu gehört nicht nur, an der Spitze von Regierungen etwas verändern zu wollen. Ganz wesentlich ist es darum, das Leben von Menschen zu verbessern, indem ihre Würde geachtet und ein selbstbestimmtes Leben möglich wird.

Die Katastrophe von Tschernobyl hat für viele Menschen in Belarus neue Türen geöffnet und eine Zusammenarbeit mit ausländischen Organisationen möglich gemacht. Dank des Geschicks und der konsequenten Überzeugungsarbeit der Caritas sind diese Türen bis heute weit offen geblieben.