Katastrophe am Aralsee: Zeit für den Neubeginn

(Reportage)
aus OWEP 4/2021  •  von Edda Schlager

Edda Schlager lebt seit 2005 in Kasachstan und arbeitet als Zentralasien-Korrespondentin, Reporterin und Fotografin für zahlreiche deutschsprachige Medien, unter anderem Deutschlandfunk, ORF, SRF oder das Magazin „Cicero“. Sie ist Buchautorin und Host des Zentralasien-Podcasts „Shashlyk Mashlyk“.

Zusammenfassung

Der Aralsee ist zum großen Teil verschwunden, die Menschen sind noch immer da. Nach Jahren der Trauer versuchen sie nun, die Katastrophe als Chance zu sehen.

Das Ufer des Aralsees in Usbekistan ist ein Paradox. Ausgerechnet hier, wo die Katastrophe am größten ist, sieht der Aralsee einem Meer zum Verwechseln ähnlich. Wie an der Ostsee erstreckt sich links und rechts kilometerweit der Strand, direkt vor den Füßen laufen die Wellen auf das flache Ufer, stoisch wie seit Millionen von Jahren. Im Rücken steigt das Gelände an – nur sind es hier keine Dünen, sondern die bunten Sedimente des Ustyurt-Plateaus.

Auf den zweiten Blick kehrt sich die Idylle an einem heißen Sommertag ins Dystopische. Der graue Sandstrand ist mit Salz verkrustet, das Ufer zum Wasser hin ein unappetitlicher Morast, das Wasser scheint nahezu zähflüssig, weil es so salzig ist. Über den Strand hinweg wehen Staubstürme, die die Luft gelb färben und einen den Kopf einziehen lassen im Wissen um ihre giftige Fracht. Der salzige Film auf der eigenen Haut zeigt – ein Entkommen gibt es trotzdem nicht.

Menschgemachte Katastrophe

Tengiz, das Meer, so nennen die Menschen hier den Aralsee. Der war einst tatsächlich einem Meer gleich, wichtiger Lebensraum und Wirtschaftsfaktor in einer zentralen Wüstenregion Zentralasiens. Mit rund 70.000 Quadratkilometern war er noch in den 1960er Jahren so groß wie Bayern, der viertgrößte See der Welt. Jetzt misst die Wasserfläche weniger als ein Zehntel davon. Noch vor wenigen Jahren sprach man vom nördlichen Kleinen Aralsee und dem südlichen Großen Aral. Doch von letzterem übrig sind nur ein riesiger Salzsumpf, der im Frühjahr etwas mehr Wasser führt als im Sommer, und westlich davon ein wenige Kilometer schmaler See, der sich von Usbekistan im Süden bis nach Kasachstan im Norden erstreckt.

„Man möchte weinen, wenn man versteht, was hier passiert ist“, sagt Dilfuza Kutlymuratova, während sie über das „Meer“ schaut. Sie betreibt ein Jurtencamp für Touristen an dessen Westufer. So oft Dilfuza kann, kommt sie hierher. Zum einen, um ihren Gästen die morbide Schönheit der Gegend zu zeigen, zum anderen aber auch, um ein Bewusstsein für die Dramatik der Katastrophe rund um den Aralsee zu schaffen.

Dilfuza ist ein Stadtmensch, sie kommt aus Nukus, der Hauptstadt von Karakalpakstan im Nordwesten Usbekistans. Hier hat die 42-Jährige mit ihrer Tante eine Tourismusfirma gegründet, denn offenbar interessieren sich Menschen aus aller Welt für diese Region. Der Aralsee ist ein Touristenmagnet. Die Hälfte ihrer Zeit verbringt Dilfuza deshalb mittlerweile in Muinak, der ehemals wichtigsten Hafenstadt am Südufer des Aralsees. 14.000 Einwohner hat die Stadt – und einen denkbar schlechten Ruf.

Schwierige Lebensbedingungen

Ein Taxifahrer erzählt später auf der Fahrt durch den Norden Usbekistans, dass er zwei Jahre lang die in Muinak stationierten Grenzsoldaten mit Lebensmitteln versorgt habe. „Selbst, wenn ich dort heute 200 oder 300 Dollar im Monat verdienen könnte, würde ich das nicht mehr machen, „die Gegend ist die Hölle.“ Seit er dort gearbeitet habe, leide er an Lungenproblemen wegen der Staubstürme. „Auch für Geld will ich das nicht mehr riskieren.“

Arbeit gibt es in und um Muinak kaum. Die Menschen leben von Subsistenzwirtschaft, bauen etwas Gemüse an, halten sich ein paar Kühe und Schafe, fischen in nahgelegenen Seen oder betreiben Läden in der Stadt. Wer es sich irgendwie leisten kann, geht weg. Die Gegend ist eine der ärmsten Usbekistans, und selbst die Grundversorgung der Menschen mit Wasser, Strom und Gas ist hier nur teilweise gegeben.

Morgens vor sieben Uhr sammeln sich auf einem zentralen Platz der Stadt mehrere Frauen in bunten Kleidern um ein Erdloch. Die gesamte Straße besteht aus gelbem Sand und Staub, asphaltiert ist nur die Hauptstraße, die ein paar hundert Meter weiter vorbeiführt. Aus den umliegenden Häusern ziehen die Frauen kleine Karren heran, darauf schwere Milchkannen und Bottiche. „Wir warten darauf, dass es Wasser gibt“, erzählt eine der Frauen, die alle sonnengegerbte Gesichter haben. Sie heiße Maryam, stellt sie sich später vor und ist 52 Jahre alt, auch wenn sie älter wirkt.

Frauen am Wasserloch in Muinak (Foto: Edda Schlager)

Nur für wenige Stunden am Tag werde hier am zentralen Wasserhahn das Wasser freigeschaltet, erzählt Maryam. „Wie lange es läuft, weiß man nie.“ Deshalb versuchen die Frauen so früh wie möglich, das in ihrem Haushalt benötigte Wasser zu ergattern – zum Kochen, Wäschewaschen, Putzen oder für den Garten.

Ungewöhnliche Ideen

Auch Dilfuza wird von den Frauen lachend begrüßt, sie machen Witze, fragen sich gegenseitig nach dem Befinden der Familie. Und Dilfuza zieht die alteingesessenen Frauen damit auf, dass sie noch immer zur Wasserstelle kommen, ein wenig schimpft sie sogar. „Sie müssten das nicht tun, mittlerweile gibt nämlich der Staat Kleinstkredite, damit man sich einen eigenen Brunnen bauen kann“, sagt sie. Das stimme schon, räumen die anderen Frauen ein. „Aber wir machen das schon lange so“, sagt Maryam lachend, „warum sollen wir das jetzt im Alter noch ändern?“

Rund 170 Kilometer ist Muinak vom „Ostseestrand“ nahe dem Jurtencamp am Aralsee entfernt. So weit ist das Gewässer in den vergangenen Jahrzehnten zurückgewichen. Am einst geschäftigen Hafen ist heute von Wasser weit und breit nichts mehr zu sehen, er ist ein Freilichtmuseum. Mit einer Parade verrosteter Fischkutter auf dem Trockenen und dem Leuchtturm in der Wüste erinnert er an frühere Zeiten.

Alter Hafen in Muinak (Foto: Edda Schlager)

Hier im Hafen ist es, wo Dilfuza dennoch Muniaks Zukunft sieht. Gemeinsam mit einer Handvoll Künstler aus der usbekischen Hauptstadt Taschkent organisiert sie das Techno-Festival „Stikhya – Urgewalt“ – direkt am Hafen. „Vor drei Jahren hat es mit ein paar Leuten angefangen, 2019 kamen schon mehr“, erzählt sie. „Dann wussten wir wegen der Pandemie lange nicht, ob es weitergeht.“ Doch im Frühjahr 2021 bekamen Dilfuza und die anderen Veranstalter vom usbekischen Ministerium für Tourismus und Sport die Genehmigung, das Festival durfte stattfinden. „Mitte Mai sind rund 3.000 Leute hergekommen, aus Usbekistan, Russland, Kasachstan, aber auch aus Europa und Afrika“, sagt Dilfuza, noch immer voller Begeisterung.

Die Bühne stand hier am Hafen, zwei Tage lang spielten DJs fast ununterbrochen live ihre Shows. Dilfuza zeigt stolz Videos von zuckenden Lichtern über einer Menschenmenge, die sich mit beseelten Gesichtern im Rhythmus der Musik bewegt. Neben den Schiffswracks wurde eine Stadt aus Zelten und Jurten für die Besucher aufgebaut. Für viele Einwohner sei die Invasion junger Leute aus der Großstadt allerdings ein Kulturschock gewesen, räumt Dilfuza ein. „Aber sie haben auch verstanden, dass das Festival der Region nutzt und dass sie selbst davon profitieren, wenn die Touristen kommen, weil sie ihnen etwas verkaufen oder Unterkünfte anbieten können.“

UN-Unterstützung für den Neuanfang am Aralsee

Die usbekische Regierung weiß, dass die Region am Aralsee Entwicklung braucht – und thematisiert das auf höchster Ebene. So initiierte der usbekische Präsident Shavkat Mirziyoyev eine Sonderresolution der Vereinten Nationen. Diese erklärt die Aralsee-Region zu einer „Zone für Umweltinnovationen und -technologien“; sie wurde am 18. Mai 2021 während der Plenarsitzung der 75. Tagung der UN-Generalversammlung einstimmig angenommen.

Bereits 2018 war der UN-Multi-Partner-Treuhandfonds für menschliche Sicherheit in der usbekischen Aralsee-Region geschaffen worden. Ihm stehen mittlerweile rund 240 Millionen US-Dollar, gesponsert durch internationale Geber, zur Verfügung. Daraus werden eben jene Programme für Trinkwasser-Brunnen finanziert, wie sie die Frauen von der Wasserstelle in Muinak nutzen können, aber auch der Aufbau von Kleinunternehmen oder Wiederaufforstungsmaßnahmen, die den freigelegten und vergifteten Seeboden stabilisieren sollen.

Denn das Verschwinden des Aralsees über Jahrzehnte hinweg hat bis heute zahlreiche ökologische Folgeprobleme nach sich gezogen. „Um damit adäquat umzugehen, muss man verstehen, was die Katastrophe verursacht hat“, sagt Bolat Bekniyaz, Hydrologe und kasachischer Landesdirektor des Internationalen Fonds zur Rettung des Aralsees (IFAS).

Zwei Jahre nach dem Ende der Sowjetunion gründeten die Präsidenten der damals bereits unabhängigen fünf zentralasiatischen Staaten Kasachstan, Kirgistan, Tadschikistan, Turkmenistan und Usbekistan den IFAS. Sein Ziel ist es bis heute, den Verlust des Aralsees gemeinsam zu bewältigen und so weit wie möglich aufzuhalten. Zu Beginn der 1990er Jahre hatte der Aralsee noch etwa fünf Mal so viel Wasser wie heute. Doch auch der IFAS konnte das Fortschreiten der Katastrophe nicht aufhalten.

Zu viele Interessen, zu wenig Wasser

„Wir brauchen das Wasser in der Landwirtschaft, um die Felder für Baumwolle, Reis oder Getreide zu bewässern“, sagt Hydrologe Bekniyaz. „Dafür wird das Wasser aus den beiden durch ganz Zentralasien fließenden Zuflüssen des Aralsees, dem Amudarya und dem Syrdarya, über teils hunderte von Kilometern lange Kanalsysteme auf die Felder geleitet.“ Aber je mehr Wasser gebraucht wurde, desto weniger Wasser kam mit den Flüssen am Aralsee an. Zum Vergleich: Seit dem Beginn der 1960er Jahre hat sich die Gesamtbevölkerung in Zentralasien fast verdreifacht. Diese heute knapp 74 Millionen Menschen müssen alle ernährt werden.

Während der Sowjetzeit war Zentralasien in riesigem Umfang urbar gemacht worden, erzählt Bekniyaz. Da die zentralasiatischen Sowjetrepubliken wirtschaftlich eng miteinander verflochten waren, hatte man auch bis dahin die Nutzung gemeinsamer Wasserressourcen aufeinander abgestimmt. Das änderte sich nach der Unabhängigkeit.

Bekniyaz formuliert vorsichtig. Er ist offizieller Repräsentant seines Landes – und der Aralsee ein schwieriges politisches Thema. Das verschwundene Gewässer steht im Mittelpunkt unterschiedlicher nationaler Interessen, die sich seit der Unabhängigkeit der zentralasiatischen Länder zu offenen Konflikten auswuchsen. Alle Länder erlebten damals schwere Wirtschaftskrisen, und jedes Land versuchte, sie alleine in den Griff zu bekommen.

Kirgistan und Tadschikistan liegen am Oberlauf der Flüsse. „Sie brauchen das Wasser vor allem im Winter für die Stromerzeugung durch große Wasserkraftwerke“, sagt Bekniyaz. „Doch wenn sie das Wasser im Winter aus den Reservoiren ablassen, richtet es bei uns Anliegern am Unterlauf der Flüsse Schaden durch Überschwemmungen an.“ Kasachstan, Usbekistan und Turkmenistan benötigen aber das Wasser im Sommer, um die Felder zu bewässern. Darüber entwickelten sich in den vergangenen Jahren erbitterte Streitigkeiten, die teilweise noch immer anhalten.

Skepsis bei der Bevölkerung

Karateren, ein Dorf am kasachischen Teil des Aralsees, rund 300 Kilometer Luftlinie von Muinak entfernt. Mit dem Auto liegt eine Entfernung von 2.200 Kilometern zwischen den Orten, denn in der Aralwüste Aralkum zwischen Usbekistan und Kasachstan gibt es keinen Grenzübergang.

Zwischen den bescheidenen Wohnhäusern sind Boote aufgebockt, denn viele der Bewohner arbeiten wieder als Fischer. Hier wohnt der 55-jährige Margulan Zhisembiyev. Er hat fünf erwachsene Kinder, der älteste Sohn arbeitet in einem Kühlhaus ein Dorf weiter, wo die gefangenen Fische vor dem Weitertransport zwischengelagert werden. Margulan selbst habe mit dem Fischfang nichts zu tun, erzählt er mit gewissem Stolz. Er arbeitet für den hydrologischen Dienst Kasachstans, kontrolliert alle fünf Tage Wassertemperatur und Wasserstand am Kok-Aral-Damm und meldet die Ergebnisse weiter in die Provinzhauptstadt.

Der Kok-Aral-Damm trennt heute den nördlichen Aralsee von dem, was im Süden übrig geblieben ist. Ein Wehr, das geöffnet und geschlossen werden kann, dient als notwendiger Überlauf. 2007 hatte Kasachstan den Damm mithilfe der Weltbank gebaut, um wenigstens diesen Teil des Sees vor dem Austrocknen zu retten. Im kasachischen Teil des Aralsees gibt es deshalb nun wieder Fischfang, sodass die Menschen davon leben können.

Fischer am Kok-Aral-Damm (Foto: Edda Schlager)

Doch Margulan ist skeptisch. „Die immer mit ihren Projekten“, schimpft er, „uns bringen die am Ende sowieso nichts, das Geld stecken sich andere in die Taschen.“ Die wirtschaftliche Situation in Karateren habe sich zwar durch den Staudamm etwas entspannt. Aber viele seiner Nachbarn lebten heute nicht viel besser als früher. Auch seine anderen Kinder müssten Karateren wohl verlassen, um Arbeit zu finden.

„Die da oben können gut reden, wir glauben nicht mehr, was sie uns erzählen.“ Usbekistan drehe Kasachstan regelmäßig das Wasser ab, so Margulan. „Weil Usbekistan das Wasser für sich nutzt, kommt fast gar kein Wasser mehr bei uns an. Aber wie sollen wir dann unsere Felder hier bewässern?“ In den vergangenen Jahren habe immer wieder große Trockenheit geherrscht. Deshalb wisse er nicht, wie es weitergehen soll.

Auf der Suche nach gemeinsamen Lösungen

Wissenschaftler Bekniyaz sagt, so schwierig die Situation auch scheine, alle Länder litten unter der Aralseekrise und müssten sie gemeinsam lösen. Er erklärt, was südlich des Kok-Aral-Damms in Usbekistan passiert: „Wenn das Süßwasser durch das Wehr abfließt, verdunstet es und bringt dabei Salz aus dem Boden mit an die Oberfläche. Es bilden sich offene Salzpfannen, und das Salz steigt durch Staubstürme in die Atmosphäre.“ Die Zuflüsse Amudarya und Syrdarya hätten zudem durch die intensive Landwirtschaft über Jahrzehnte hohe Konzentrationen an Insekten- und Unkrautvernichtungsmittel sowie Dünger in den Boden des Aralsees eingetragen. Diese Gifte seien nun freigelegt. „Deshalb sind die Salzstaubstürme das allergrößte Umweltproblem“, so Bekniyaz. „Es gibt in Karakalpakstan Stürme, die tragen das Gift bis nach Turkmenistan und decken damit ganze Dörfer zu.“

Erst in den vergangenen Jahren haben sich die Regierungen der zentralasiatischen Staaten politisch so weit angenähert, dass sie jetzt auch nach gemeinsamen Lösungen suchen. Ein Ansatz, den Usbekistan und Kasachstan verfolgen, sind Wiederaufforstungen mit Wüstenpflanzen wie Saksaul. Beide Länder planen nun, südlich des Kleinen Aral ein künstliches Delta anzulegen. „Wir wollen, dass hier ein neues Ökosystem, ein großes Feuchtbiotop entsteht, mit künstlichen Wasserläufen, die durch überschüssiges Wasser von den Feldern gespeist werden“, so Bekniyaz. So werde verhindert, dass Salz in die Atmosphäre gelangt. Der Hydrologe ist überzeugt, dass es nicht möglich sei, den Aralsee wieder herzustellen. „Dafür fehlt es einfach an Wasser, aber wenn wir die vorhandene Menge sinnvoll nutzen, wird es hier in zehn Jahren ein neues nachhaltiges Ökosystem geben, das nicht so einfach zerstört werden kann.“