Licht und Schatten des Wandels
Haben die Veränderungen in Estland Auswirkungen auf Ihr heutiges Leben?
30 Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs hat sich Estland im Vergleich zur kommunistischen Zeit fast bis zur Unkenntlichkeit verändert. Für die jüngere Generation ist es unvorstellbar, wie das Land unter dem alten System aussah – von der Nichtverfügbarkeit von Grundgütern bis zum Fehlen von Presse- und Religionsfreiheit.
Estlands Erfolg beruht auf einem innovativen Geist, der ständig nach Verbesserungen strebt, offen für mutige Ideen ist und keine Angst davor hat, Dinge anders zu machen. Aufgrund der schnellen und radikalen Reformen in den 1990er Jahren war Estland das erste ehemals kommunistische Land mit freier Wirtschaft und ist heute eines der freiesten der Welt (Platz 15 im Index zur Wirtschaftsfreiheit 2019). Die Ergebnisse der PISA-Studie der OECD belegen, dass das Land aufgrund seines Bildungsansatzes in Bezug auf die grundlegenden Bildungswerte europaweit auf dem ersten und weltweit auf dem dritten Platz liegt.
Nach Erlangung der Unabhängigkeit im Jahr 1991 verfolgte die estnische Regierung einen digitalen Ansatz, der dazu führte, dass Estland die digital am weitesten entwickelte Gesellschaft der Welt und im Bereich des Unternehmertums das erfolgreichste Land in Europa geworden ist. Lange Schlangen in Supermärkten und rationierte Nahrungsmittel in der Ära des Kommunismus wurden durch staatliche Angebote ersetzt, die rund um die Uhr im Internet verfügbar sind. Steuererklärungen können online in weniger als fünf Minuten erledigt werden, Unternehmer können ihre Angebote in wenigen Minuten mithilfe des Internets registrieren, ohne zum Notar gehen zu müssen, und fast ein Drittel der Bürger stimmt bei Wahlen über das Internet ab. Zudem entsprechen digitale Signaturen mittlerweile physischen Unterschriften, und Bürger können über die Cloud auf die Einträge in ihren Gesundheitsakten zugreifen und mit dem Handy Parkgebühren oder Bustickets bezahlen. Somit hat sich die Lebensweise der Esten grundlegend verändert: Es besteht die Bereitschaft, Probleme bürgerfreundlich und unbürokratisch zu lösen; das Leben verläuft reibungsloser, der Verwaltungsbereich arbeitet kostengünstiger und wird als unkompliziert empfunden.
Ein starker Fokus auf einfache Geschäftsabwicklung, transparente und unternehmensfreundliche Gesetze – einschließlich der so genannten eResidency (gewissermaßen eine „elektronische Staatsbürgerschaft“), die es ermöglichen, Unternehmen in Estland zu gründen, ohne dort zu leben – gepaart mit dem wettbewerbsfähigsten und investitionsfreundlichsten Steuersystem Europas: All das hat Talente und Unternehmer aus der ganzen Welt angelockt. Bemühungen dieser Art haben eine Start-up-Kultur gefördert; in Estland gibt es schätzungsweise 550 Start-ups. Somit hält Estland den Weltrekord in Bezug auf Start-ups pro Einwohner.
Der Zusammenbruch des kommunistischen Regimes brachte jedoch auch einen Wertewandel mit sich. Die Modernisierung führte zu individualistischen und materialistischen Gesinnungen, wobei die wirtschaftliche Entwicklung und Sicherheit im Vordergrund standen, sowie zu einer verstärkten Säkularisierung und leider auch zu einer gewissen Intoleranz gegenüber Minderheiten.
Können Sie sich vorstellen, dass die ältere Generation eine andere Sichtweise hat?
Die Menschen hatten nach dem Fall des Eisernen Vorhangs hohe Erwartungen, weil sie glaubten, dass sich Demokratie und Wohlstand parallel entwickeln und Estland das westeuropäische Niveau schnell aufholen würde. Das Land hat bemerkenswerte wirtschaftliche, politische, soziale und kulturelle Veränderungen durchgemacht, erlebte die Vorteile der Unabhängigkeit, aber auch die Desillusionierungen der Demokratisierung und die Unsicherheiten des Wirtschaftssystems.
Die langersehnte Unabhängigkeit und Entwicklung des Landes ist der älteren Generation sehr wichtig. Sie ist gut in das Technologie- und Kommunikationszeitalter integriert. Unerfüllte Erwartungen sorgen jedoch für eine gewisse Ernüchterung, da die Globalisierung von Handel, Kapitalmarkt und technologischem Wandel zu zunehmenden Einkommensunterschieden beigetragen hat. Der Wohlstand hat zugenommen, das Risiko von Armut und sozialer Ausgrenzung ist eines der niedrigsten im Vergleich aller mittel- und osteuropäischen Länder, die Langzeitarbeitslosenquote ist die niedrigste seit 20 Jahren, und dennoch sind die Ungleichheiten innerhalb der Gesellschaft nach wie vor erheblich und im europäischen Vergleich sehr hoch. Das Problem des niedrigen Lebensstandards betrifft die meisten Rentner und schutzbedürftige Personen wie etwa Alleinerziehende. Besonders die älteren Generationen sind unzufrieden mit den niedrigen Renten, die kein menschenwürdiges Leben ermöglichen. Diese Ungleichheiten haben zu zunehmenden politischen und sozialen Spannungen geführt.
Gleichwohl erwarteten die Menschen nach dem Zusammenbruch des Kommunismus erhebliche Verbesserungen in Bezug auf ihren Wohlstand. Als optimistischste Nation innerhalb der EU glauben die Esten immer noch an eine glänzende Zukunft. Nur 4 Prozent von ihnen sind der Ansicht, dass es ihren Kindern schlechter gehen werde als ihnen selbst (der EU-Durchschnitt liegt bei 18 Prozent).
Was muss in Estland noch geändert werden? Und wie sehen Sie die zukünftige Entwicklung Europas?
Die größten Herausforderungen, vor denen Estland derzeit steht, sind die Abhängigkeit von der Zuwanderung, die Anpassung an die Multinationalität und die Stärkung des sozialen Zusammenhalts. Es muss auch darauf hingewiesen werden, dass die Rate von Selbstmord- und Drogenkonsumtodesfällen in Estland sehr hoch ist. Die Abhängigkeit von der Zuwanderung ist auf dem Arbeitsmarkt stark zu spüren, da die Entwicklung vieler Unternehmen von der Zuwanderung und das Wohlergehen zu vieler Menschen von der Arbeit im Ausland abhängt, was mit der Abwanderung von Fachkräften ins Ausland zusammenhängt. Angesichts des Bevölkerungsrückgangs durch die niedrige Geburtenrate und die zunehmende Überalterung der estnischen Bevölkerung sind Reformen in der Familien- und Einwanderungspolitik notwendig. Die Anwerbung qualifizierter Arbeitskräfte aus dem Ausland gewinnt für das Land zunehmend an Bedeutung, was ein Überdenken der bisherigen Integrationspolitik erforderlich macht.
Europa ist heute gefordert, sein Gemeinschaftsgefühl wiederzuerlangen, das heißt insbesondere, zu seiner Identität zurückzukehren und den Wert seiner Vergangenheit wiederzuentdecken. Das Europa der neuen Generationen muss sich von dem in unserer Zeit weit verbreiteten Individualismus zu einer integrativen Einheit entwickeln, in der Platz ist für Solidarität und Dialog und in der Vielfalt geschätzt und als Quelle der Bereicherung und nicht als Belastung angesehen wird. Dies erfordert jedoch einen Beitrag zur menschlichen Entwicklung. Ein Europa, das sich eher auf seelenlose Gewinnspannen als auf die Würde des Menschen konzentriert, ist nicht nachhaltig. Das Individuum muss also die Leitlinie für das zukünftige Europa sein.
Aus dem Englischen übersetzt von Thomas Hartl.