„Mit einer Herzhälfte dort, mit der anderen hier“

(Essay)

Zusammenfassung

Die Belarussin Alesja Belanovich-Petz lebt seit 2012 in Berlin und blickt von Deutschland aus auf die Ereignisse in ihrer Heimat. In einem persönlichen Essay erzählt sie von inneren Widerständen und der Bedeutung des Belarussischen für ihr Leben.

Natürlich sitze ich jeden Tag sehr viel an meinem Handy und verfolge in den Telegram-Kanälen die Ereignisse in Belarus, die ständigen Verhaftungen und Repressionen. Sie sind, auch ich wenn in Berlin lebe, zu meinem Alltag geworden. Häufig komme ich mir vor, als würde ich in einer Parallelwelt existieren. Mit einer Herzhälfte dort, mit der anderen hier.

Erstaunt erlebe ich, dass meine Heimat in den deutschen Medien nun nicht mehr Weißrussland heißt, sondern Belarus. Einem Deutschen erscheint das vielleicht unwichtig, für mich ist es das nicht. Meine Heimat heißt nun mal Belarus, und mit diesem Namen wird die Unabhängigkeit des Landes anerkannt. Es wird nicht mehr zu einem wie auch immer gearteten Teil Russlands degradiert. Wir haben zwar eine gemeinsame sowjetische Geschichte, die wir teilen, aber die Republik Belarus ist schon seit 1991 eigenständig. Das ist in Deutschland offenbar erst mit einiger Verspätung angekommen.

Die Wucht der Proteste

Genauso wie viele meiner Freunde in Belarus war auch ich von der Wucht der Proteste überwältigt. Jede Woche gehen Tausende von Belarussinnen und Belarussen auf die Straßen. Jeden Tag verkünden Arbeiter der staatlichen Betriebe, Lehrer oder Dozenten, dass sie in den Streik gehen oder aus politischen Gründen ihrem staatlichen Arbeitgeber den Rücken kehren.

Jede Stunde tauchen neue weiß-rot-weiße Fahnen oder Bändchen als Zeichen des Protests an unzähligen Ecken des Landes auf. Und das Regime versucht all das wieder zu unterdrücken: mit Gewalt, mit Kündigungen, mit Psychoterror, mit Gefängnis- und Geldstrafen. Aber ich bin mir sicher, dass sich diese Bewegung nicht mehr unterdrücken lässt.

Meine Landsleute haben eine besondere Stärke entdeckt, die lange keineswegs selbstverständlich war: Sie äußern ihre eigene Meinung, laut und deutlich. Sie treten für ihre Grundrechte ein und setzen sich gegen Unrecht zur Wehr – trotz täglicher Einschüchterung und Gewalt des Regimes.

Der Kampf um das Belarussische spiegelt zum Teil wider, welche inneren Widerstände wir überwinden müssen. Als ich Anfang 20 war, habe ich mich bewusst dafür entschieden, Belarussisch nicht nur im Studium oder mit Freunden zu sprechen, sondern auch im Alltag, also auf der Arbeit, in Geschäften, in der Metro, mit Bekannten und Unbekannten. Meine Gründe waren vielfältig: Protest gegen das Regime, Identitätssuche, sicherlich auch ein gewisser Trotz. Ganz bestimmt spielte auch der Wunsch eine Rolle, dass es irgendwann normal und selbstverständlich sein sollte, Belarussisch zu sprechen – ohne dass man deshalb für eine Oppositionelle gehalten wird oder für eine „Außerirdische“.

Das Bekenntnis zum Belarussischen

Ich bin alles andere als eine Nationalistin. Aber mir wollte es nicht in den Kopf, warum die Sprache unserer belarussischen Dichter und Denker, unserer Großmütter und Großväter, lange so diskreditiert wurde. Mein Bekenntnis zum Belarussischen und die damit verbundenen Erfahrungen haben mich tiefgreifend verändert.

Meine Entscheidung, Belarussisch zu sprechen, war anfangs mit viel Überwindung verbunden. Es kostete mich einigen Mut, Beamte, Verkäuferinnen oder Leute auf der Straße auf Belarussisch anzusprechen. Denn es bedeutete, dass man plötzlich Aufmerksamkeit auf sich zog. Außerdem erntete ich sehr unterschiedliche Reaktionen: Ich stieß auf Unverständnis, weil die Person der Sprache nicht mächtig war oder einzelne Worte nicht kannte. Oder auf kindliche Verwunderung, dass es tatsächlich Menschen gibt, die Belarussisch sprechen.

Aber ich erlebte auch Aggressivität oder Beschimpfungen, weil mein Gegenüber der Ansicht war, dass nur Bauern und Oppositionelle Belarussisch sprechen. Dabei wünschte ich mir einfach nur, dass es selbstverständlich sein sollte, in Belarus neben Russisch auch Belarussisch zu hören und zu sprechen.

Ich kann nicht mehr genau sagen, ob ich mich für Belarussisch entschied, als ich mich schon politisiert hatte, oder ob ich politisch wurde, nachdem ich mich für das Belarussische entschieden hatte. Aber der Umgang mit dem Belarussischen wurde für mich auch in anderer Hinsicht zu einem wichtigen Gradmesser.

Wenn jemand abfällig über das Belarussische sprach, der sich eigentlich für eine Veränderung im Land engagierte, schienen mir auch die angeblich so demokratischen Bemühungen eher unglaubwürdig. Vielleicht wurde durch diese Erfahrung mit der Diskriminierung meiner Sprache auch mein Sinn für jede andere Form von Diskriminierung geschärft?

Spricht heute jemand abfällig über Andere, sei es über Russen, Deutsche, Frauen, Homosexuelle oder Migranten, so trennt uns das sofort – auch wenn es auf Belarussisch gesagt wird.

Hoffnung für die nahe Zukunft

Seit ich im Oktober 2012 nach Deutschland kam, hat das Belarussische seine bestimmende Rolle in meinem Alltag natürlich verloren. Aber wenn ich hier meine Muttersprache spreche, fühlt es sich selbstverständlich an.

Während ich das hier schreibe, in meinem Zimmer in Berlin, und an meine Freunde in den Straßen von Belarus denke, habe ich nur eine Hoffnung: Ich wünsche mir für Belarus eine starke Zivilgesellschaft, ein demokratisches Miteinander, das in einer offenen Gesellschaft zu sich findet. Dazu gehört auch ein gleichberechtigtes Nebeneinander des Russischen und Belarussischen. Es wären dann auch zwei Herzhälften, die eigentlich zusammengehören. In einem zukünftigen freien Belarus.