Neue Wege der Belarus-Forschung. Ein Gespräch mit Prof. Dr. Thomas Bohn
Zusammenfassung
Seit Januar 2020 tagt die neu geschaffene Belarusisch-Deutsche Geschichtskommission. Sie ist mit 16 Historikerinnen und Historikern aus beiden Ländern besetzt und kam auf Initiative der Präsidenten beider Länder zustande. Der Osteuropa-Historiker und Professor an der Justus-Liebig-Universität Gießen, Thomas Bohn, ist Sprecher der Kommission und hofft darauf, dass die Arbeit 2021 durch persönliche Begegnungen stärker vertieft werden kann. – Das Gespräch mit ihm führte OWEP-Chefredakteurin Gemma Pörzgen.
Was sind die Aufgaben der Geschichtskommission?
Die Belarus-Forschung war immer ein Stiefkind der Osteuropa-Forschung, deshalb freue ich mich, dass die Deutsche Gesellschaft für Osteuropakunde (DGO) ihr Interesse bekundet hat, gemeinsam mit der Nationalen Akademie der Wissenschaften der Republik Belarus, Träger der Kommission zu werden. Unsere wichtigste Aufgabe ist es, die Beziehungen beider Länder in vergleichender Perspektive zu betrachten und im Rahmen einer europäischen Verflechtungsgeschichte zu untersuchen. Wir wollen dazu auch unabhängige Historikerinnen und Historiker beider Länder einbeziehen.
Wenn Sie sagen, dass die Belarus-Forschung in Deutschland lange vernachlässigt wurde, was bedeutet das für die Aufarbeitung der Verbrechen im Zweiten Weltkrieg?
In den 1990er Jahren hat die so genannte Archivrevolution in den Ländern der ehemaligen Sowjetunion den NS-Forschern und Militärspezialisten ganz neue Forschungsmöglichkeiten eröffnet. Nach dem Ende der UdSSR wurden viele historische Quellen zugänglich, die uns lange verschlossen waren, vor allem auch in der Republik Belarus. Zuvor waren über Jahrzehnte historische Arbeiten erschienen, die sich nur auf deutsches Aktenmaterial stützten. Nun tauchten mit einem Mal Buchtitel auf, die nicht mehr „Der Krieg gegen die Sowjetunion“ hießen, sondern „Der Krieg in Weißrussland“, und das veränderte bereits die Perspektive.
Was bedeutet das für unser Geschichtsbild?
Wir brauchen eine doppelte Sensibilisierung der bundesdeutschen Öffentlichkeit dafür, dass die Sowjetunion nicht etwa mit Russland gleichzusetzen ist, und dass Belarus jahrhundertelang zu Polen-Litauen gehört hat. In der Zwischenkriegszeit wurde die Belorussische Sozialistische Sowjetrepublik als Rumpfstaat gegründet. Im Zeitalter der Diktatoren gab es von 1921 bis 1939 Grenzverschiebungen nach Osten wie nach Westen. Und das Gebiet, das wir heute als Belarus begreifen, gehörte damals teils zur Zweiten Polnischen Republik, teils zur Sowjetunion.
Der Holocaust wütete im östlichen Europa so stark, weil sich dort im langen 19. Jahrhundert nach den Teilungen Polen-Litauens das Zentrum des Ansiedlungsrayons für die Juden des Zarenreichs befunden hatte. Nationalsozialistische Massenverbrechen sind aber nicht nur an den Juden, sondern im Zuge der „Partisanenbekämpfung“ an der gesamten zivilen Bevölkerung verübt worden. Das ist in Deutschland noch zu wenig bekannt.
Wird das Ausmaß der NS-Verbrechen auf dem Gebiet des heutigen Belarus immer noch unterschätzt?
Allein im Vernichtungslager Maly Trostinec, das heute ein wichtiger europäischer Gedenk- und Erinnerungsort ist, wurden rund 50.000 bis 60.000 Menschen ermordet. Die sowjetische außerordentliche Untersuchungskommission hat unmittelbar nach dem Krieg von mehr als 200.000 Toten gesprochen. Diese Zahl gilt in der postsowjetischen Überlieferung als gesetzt und spielt in der Erinnerungskultur eine wichtige Rolle, weil man sie in Relation zu Auschwitz und anderen Orten des Holocaust und der Massenvernichtung setzen kann. Das bedeutet, dass wir die Gewichtungen, Zuschreibungen, aber auch Begrifflichkeiten, wie Konzentrationslager, Vernichtungsort oder Gedenkstätte, durchaus noch diskutieren müssen, um eine angemessene europäische Erinnerungskultur entwickeln zu können.
Gibt es weitere Unterschiede?
Auf der belarussischen Seite ist die Geschichtsbetrachtung bis heute durch den sowjetischen Kult um den Großen Vaterländischen Krieg vor allem auf die Partisanen und zivile Opfer fokussiert, wobei der Holocaust und die jüdischen Opfer immer marginalisiert worden sind. Wir müssen uns klar machen, dass im Zweiten Weltkrieg fast jeder vierte Belarusse getötet wurde. Das hat sich in den Familiengeschichten und traumatischen Erinnerungen bis heute festgeschrieben.
Was tut die Kommission dafür, Historikern auf beiden Seiten zu ermöglichen, diese schwierigen Themen aufzuarbeiten?
Die Kommission ist in einer Gründungsphase und hat es coronabedingt noch schwer, in die Gänge zu kommen. Für dieses Jahr war geplant war, dass wir uns zunächst über Begrifflichkeiten und Methoden verständigen. Die Kommission hat sich mit einem Kommuniqué auch ein Programm gegeben und ihr Selbstverständnis formuliert. Dabei war es der deutschen Seite wichtig, auf der Basis der Freiheit von Forschung und Lehre zu agieren. Das hat die belarussische Seite irritiert, weil sie eine Verfälschung der Geschichte durch politische Akteure befürchtet. Als Beispiel diente ihr eine Resolution des Europäischen Parlaments zum Hitler-Stalin-Pakt, die der Sowjetunion eine Mitschuld am Ausbruch des Zweiten Weltkrieges zuschreibt.
Die Akademie der Wissenschaften störte sich an dem Wörtchen der Freiheit, wollte dagegen eine historische Objektivität setzen, die sie als das Prinzip des Historismus deklariert. Das ist nach unserem Verständnis schwierig, denn Historismus steht in der deutschen Wissenschaftstradition für die Geschichtsauffassung des 19. Jahrhunderts und die Verpflichtung auf die Nationalgeschichte. Nach sowjetischer Lesart ist damit aber Historischer Materialismus und Parteilichkeit gemeint. Anders als bei uns ist die Wissenschaftsstruktur in der Republik Belarus auch hierarchischer geprägt. Das führt beispielsweise dazu, dass die Lehrpläne eher von oben nach unten diktiert werden. Eine freie Themenwahl bei Examensarbeiten oder Doktorarbeiten ist deshalb nicht so gegeben, wie wir das gewohnt sind.
Wir stellten also genug Missverständnisse fest, über die wir reden müssen. Deshalb war eine Konferenz zum Thema „Historismus und Staatlichkeit“ geplant, die wegen Corona leider nicht stattfinden konnte. Inzwischen regt die Revolution nach den Wahlfälschungen vom 9. August 2020 dazu an, neue Akzente zu setzen. Wir dürfen aber nicht vergessen, dass wir in der Kommission mit den offiziellen Institutionen eines Landes zusammenarbeiten, das als "letzte Diktatur Europas" bezeichnet wird.
Öffentlich sichtbar geworden ist die Geschichtskommission dadurch, dass der Name Belarus sich inzwischen in den deutschen Medien durchsetzt. Früher war eher von „Weißrussland“ die Rede, aber unter Osteuropaexperten galt das schon lange als falscher Sprachgebrauch. Welche Rolle hat die Kommission dabei gespielt, die Bezeichnung in der deutschen Öffentlichkeit zu verändern?
Ein Paradigmenwechsel deutete sich schon im November 2019 im Zusammenhang mit den Parlamentswahlen in der Republik Belarus an. Die Tagesschau ging dazu über, von „Belarus (auch Weißrussland)“ zu sprechen. Vor der Präsidentenwahl in Belarus hat die Belarusisch-Deutsche Geschichtskommission im Juni 2020 in einer Presseerklärung ebenfalls empfohlen, auf „Weißrussland“ zu verzichten und Belarus zu sagen. Um der Landessprache gerecht zu werden, haben wir zudem angeregt, das Adjektiv „belarusisch“ mit nur einem S zu schreiben statt bisher „belarussisch“.1
Was spricht denn gegen die Bezeichnung „Weißrussland“?
Seit 1991 gibt es drei ostslawische Staaten: Russland, die Ukraine und Belarus, die ihre Wurzeln auf das Kiewer Reich oder die "Kiewer Rus“ zurückführen können. Deswegen sollte man in historischer Perspektive auch von einer "Weißen Rus" oder "Westlichen Rus" reden, eben von der Belarus. Unserer Auffassung nach ist es wichtig, die Existenz der Republik Belarus ernst zu nehmen. Kulturgeschichtlich gesehen handelt es sich um eine Übergangsregion oder Kontaktzone zwischen Ost- und Westeuropa, die man nicht per se Russland zuschreiben muss. 400 Jahre polnisch-litauische Herrschaft und 200 Jahre russischer und sowjetischer Einfluss haben eigene Akzente gesetzt. Wir sollten das Land in seiner Multikulturalität wahrnehmen und seine politische Eigenständigkeit wertschätzen.
Was wurde darüber hinaus bislang erreicht?
Neben der Sprachenfrage hat uns auch die Auslobung und Verteilung von Stipendien beschäftigt. Unser Ziel ist es, Doktoranden aus Deutschland und aus Belarus zu Forschungsarbeiten in das jeweils andere Land zu schicken. Es gab eine Ausschreibung und wir haben gute Kandidaten gefunden, die in den Startlöchern stehen, wegen Corona bisher aber nur teilweise ausreisen konnten.
Die Kommission arbeitet in einem schwierigen Umfeld. Neben der Coronapandemie ist Belarus gerade ein Land im Umbruch. Es war der Wunsch der Kommission, auch mit unabhängigen Historikern zusammenzuarbeiten, nicht nur mit den staatlichen Hochschulen und der Akademie der Wissenschaften. Welche Möglichkeiten hat die Kommission denn derzeit überhaupt?
Wir wollen als deutsche Kommissionsmitglieder in Belarus noch stärker an Historikerinnen und Historiker herantreten, die nicht in den offiziellen Institutionen arbeiten. Außerdem ist uns wichtig, die deutsche Osteuropaforschung für belarussische Themen zu sensibilisieren, aber auch Kolleginnen und Kollegen einzubinden, die sich in erster Linie mit der deutschen Geschichte befassen.
Darüber hinaus ist für uns die Minsker Geschichtswerkstatt des Internationalen Bildungs- und Begegnungswerkes Dortmund (IBB), die auf dem Gelände des ehemaligen Ghettos arbeitet, eine wichtige Anlaufstelle. Sie leistet vor allem Bildungsarbeit und setzt sich mit der Bewältigung der nationalsozialistischen Besatzungsherrschaft im Zweiten Weltkrieg auseinander. Besonders interessant ist dort für uns das beeindruckende Zeitzeugenarchiv.
Die Arbeit der Geschichtskommission wird vom Auswärtigen Amt finanziert. Ist diese Förderung weiterhin gesichert und um welche Summe geht es da?
Die Anschubfinanzierung kam im ersten Jahr in der Tat vom Auswärtigen Amt. Ab 2021 werden wir vom Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD) finanziert. Dadurch wird dann noch einmal die Wissenschaftlichkeit unserer Aktivitäten unterstrichen.
Fußnote:
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Empfehlungen zur Schreibweise von Belarus: https://geschichte-historyja.org/site/assets/files/1/200715_pressemitteilung_geschichtskommission_by_de.pdf (Link mittlerweile inaktiv!). – Die OWEP-Redaktion verwendet die Bezeichnung „Belarus“, folgt aber bei dem Adjektiv „belarussisch“ der gewohnten deutschen Duden-Schreibweise. ↩︎