Seen unter Eis

aus OWEP 4/2021  •  von Georgiy Kirillin

Dr. Georgiy Kirillin lebt und forscht in Berlin. Geboren ist er in Karaganda in Kasachstan. Georgiy Kirillin ist seit 2002 Wissenschaftler am Leibniz-Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei (IGB) und leitet dort aktuell die Forschungsgruppe „Physikalische Limnologie (Seenphysik)“. Seine Doktorarbeit schloss er an der Humboldt-Universität zu Berlin und dem IGB zum Thema „Modeling of the vertical heat exchange in shallow lakes“ (Mathematisches Modell zum Wärmeaustausch in flachen Seen) ab. Zuvor studierte Georgiy Kirillin am Institut für Limnologie (Seenkunde) der Russischen Akademie der Wissenschaften in St. Petersburg und arbeitete dort als Wissenschaftler und Ingenieur.

Zusammenfassung

Im Winter ruht die Natur. Insbesondere in eisbedeckten Seen tut sich nichts – so die lange vorherrschende Meinung. Erst vor etwa zwanzig Jahren haben Forschende begonnen, etwas genauer hinzuschauen. Sie haben festgestellt, dass alles Leben im See seinen Ursprung unter dem Eis hat. Und dass der Klimawandel viel verändert – die Eisperiode und damit auch die Ökologie des Sees.

In vielen Langzeitbeobachtungen von Seen hatten Gewässerforschende eine Lücke – im Winter. Gerade die Eisperiode ist mit komplizierten physikalischen Prozessen verbunden. Ich erforsche mit meinem Team vom Leibniz-Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei (IGB)1 und internationalen Kolleginnen und Kollegen, wie sich das Wasser unter der Eisfläche verhält, welche Schichten es bildet oder welche Strömungen im Wasser entstehen. Diese Faktoren bestimmen die Länge und Art der Eisbedeckung, und dies wiederum hat Auswirkungen auf die Ökologie des Sees.

Dem Eis ist nicht zu trauen

Im Winter werde ich oft gefragt, ab wann man die Eisdecke auf einem See betreten kann. Da kann ich nur sagen: „Dem Eis ist nicht zu trauen. Mindestens zwanzig Zentimeter dick sollte die Schicht schon sein, bevor man darauf laufen kann. Starker Wind bringt das Eis zum Schwingen und warmes Wasser kann eindringen. Strömungen unter dem Eis sind immer gefährlich, insbesondere wenn man die Eisdicke unter einer Schneeschicht nicht abschätzen kann. Aber das ist gerade das Spannende; Eis ist alles andere als starr – weil so viel unter der Oberfläche geschieht, was wir nicht sehen und erst so langsam beginnen zu verstehen.

Der See ruht nicht still und starr

Die Eisbildung bringt den See in einen völlig neuen Zustand. So entstehen unter der Eisdecke Strömungen, die teilweise stärker sind als im offenen Wasser. An der Oberfläche ist das Wasser zwar ruhiger – darunter tut sich manchmal dafür umso mehr. Wenn zum Beispiel Wind auf die Wasseroberfläche drückt, neigt sich die Oberfläche ein klein wenig. Das ist mit dem bloßen Auge kaum zu sehen, aber verteilt auf eine große Fläche steckt viel Energie darin. Wenn nun eine Eisdecke darauf liegt und das Wasser nicht mehr ausweichen kann, können beträchtliche Strömungen entstehen.

Für die Beobachtung des Klimawandels spielt die Eisbildung auf Seen eine wichtige Rolle: Die Dauer der Eisbedeckung auf Seen ist unser wichtigster Indikator für sehr weit zurückreichende Langzeitreihen des Klimawandels. Um die Eisperiode festzustellen, braucht man nämlich keine modernen Geräte, wie es schon allein für die Temperatur nötig ist – das Messinstrument ist allein das menschliche Auge. Weil es in Japan schon seit Urzeiten die Tradition gab, die Eisperiode auf Seen aufzuzeichnen, gibt es diese Daten schon seit dem neunten Jahrhundert. Zu den längsten Zeitreihen gehört auch die von Eisereignissen (Seegfrörnen) auf dem Bodensee, die seit dem Jahr 895 beobachtet werden. Die Eisbedeckung hat sich im Laufe der Jahrhunderte immer weiter verkürzt. Das zeigt, wie empfindlich die Natur gerade auch im Winter auf Klimaveränderungen reagiert.

Klimafolgenforschung – mit dem Mini-U-Boot unter das Eis

Am Kilpisjärvisee2 in Finnland unterhält unser Team mit Unterstützung der Universität Helsinki eine Messplattform, die in regelmäßigen Abständen vollautomatisch Werte wie den Sauerstoffgehalt oder die Temperatur im Wasser aufnimmt. Den Kilpisjärvi haben wir ausgewählt, weil er der See mit der längsten Eisperiode in Europa ist. Weiter nach Norden hin sind schon die Auswirkungen des Golfstroms spürbar. Bis Mitte Juni bleibt die Eisschicht, darunter sind vierzig Meter Wasser – und dort ist es alles andere als still.

Georgiy Kirillin und ein Kollege schieben die Messsonden durch ein Loch in die Eisschicht. (Foto: IGB)

Mit einem mit Sonden ausgerüsteten Mini-U-Boot messen wir die Strömungsverhältnisse unter dem Eis. So konnten wir erstmals für Binnenseen zeigen, wie das Wasser unter der Eisschicht zirkuliert. In etwa zwei bis drei Tagen ist das gesamte Wasservolumen des sieben Kilometer langen Sees unter dem Eis einmal herumgekreist.

Das Mini-U-Boot ist mit Messsonden ausgerüstet und kann Werte wie Strömung und Temperatur aufnehmen. (Foto: IGB)

Die Daten vom Kilpisjärvi bestätigen, was auch für andere Seen weltweit beobachtet wird: Die Zeit der jährlichen Eisbedeckung wird kürzer. Schon zweimal in Folge gab es in den letzten Jahren am Kilpisjärvi einen Negativrekord. Die verkürzte Eisbedeckung verändert die Wachstumsdynamik von Algen, Pflanzen und Kleinstlebewesen, ganze Nahrungsnetze im See verschieben sich.

Phänomen Baikalsee

Am Baikalsee in Russland sind die Auswirkungen des Klimawandels auf die Eisbedeckung nicht ganz so stark zu spüren. In der anderthalb Kilometer starken Wassersäule des tiefsten Süßwassersees der Erde ist viel Wärme gespeichert. Dies verhindert lange Zeit die Ausbildung einer Eisschicht auf dem See. Selbst bei minus 30 Grad Celsius im November ist der Baikalsee häufig noch eisfrei – im Durchschnitt ist der See nur drei bis vier Monate im Jahr von Eis bedeckt. Aber auch im Baikalsee spielt die zeitliche Dynamik der Eisbedeckung eine wichtige Rolle für das Funktionieren des Ökosystems des Sees. Wir wollten am Baikalsee erforschen, welche physikalischen Faktoren die Eisbedeckung beeinflussen und dabei den vertikalen Wärmeaustausch innerhalb der Wassersäule und an der Wasser-Eis-Grenze genau analysieren.

Die Messungen waren nicht einfach, denn der Wärmestrom hängt von mehreren physikalischen Prozessen ab, wie der Absorption der Sonnenstrahlung, der Temperaturschwankung innerhalb der Eisdecke und in der Wasserschicht unter dem Eis sowie von der Intensität der Strömungen und Turbulenzen in der Wassermasse. Das Labor für Hydrologie und Hydrophysik des Limnologischen Instituts der Sibirischen Abteilung der Russischen Akademie der Wissenschaften entwickelte daher für die Analysen ein spezielles Eismesssystem. Das Messsystem besteht aus 30 Temperatursensoren, die vertikal alle fünf Zentimeter im Eis und alle zehn bis 50 Zentimeter im Wasser und in der Luft positioniert werden. Das System umfasst außerdem drei Lichtintensitätssensoren, von denen einer in der Luft anderthalb Meter von der Eisoberfläche, einer auf der Eisoberfläche und einer im Wasser unter dem Eis in anderthalb Metern Tiefe installiert wird. Und so konnten wir zeigen, dass die Strömungen unter dem Eis einen deutlichen Einfluss auf die Eisschmelze haben.

Treibhausgas Methan aus dem Baikalsee

Der Baikalsee ist in vielerlei Hinsicht besonders: Es ist der einzige See, von dem bekannt ist, dass er Methan in fester Phase (Methanhydrate) enthält. Methanhydrat kommt ansonsten beispielsweise noch in der Tiefsee vor. Die Bildung von Methanhydraten wird durch hohen Druck und niedrige Temperaturen begünstigt. Wir haben in einem internationalen Team unter Leitung des Limnologisches Instituts der Sibirischen Abteilung der Russischen Akademie der Wissenschaften das Aufsteigen von Methanhydraten in der Wassersäule erforscht. Dazu nutzten wir auch hydroakustische Methoden.

Seen sind generell eine Quelle für Methan, wenn auch in gasförmiger und nicht in fester Form: Es entsteht, wenn Pflanzen und Tiere absterben und von Kleinstlebewesen zersetzt werden. Laut Weltklimabericht machen die Emissionen aus Binnengewässern fast ein Drittel der aus natürlichen Quellen freigesetzten Treibhausgase aus. Unsere Studie zeigte, dass Methanhydrate, die aus Sedimenten in 500 bis 1.000 Metern Tiefe freigesetzt werden, die Oberfläche des Baikalsees erreichen und in die Atmosphäre gelangen können.

Erklärung für wundersame Eisstrukturen

Wir konnten auch ein Anzeichen dafür liefern, dass die Freisetzung von Methanhydraten für besondere Eisstrukturen verantwortlich ist, die einzigartig für den Baikalsee sind: Eine Form des Eises wird als „Kolobownik“ bezeichnet, ein lokaler Name für Eis, das große Mengen klumpigen, körnigen Eises mit einer rauen Oberfläche und Eiskugeln mit einem Durchmesser von einigen Zentimetern bis 0,2-0,5 Metern enthält, die in der Eisdecke eingefroren sind.

Eine weitere Eisform wird lokal als „Sopki“ bezeichnet. Sopki tritt häufiger auf der Ostseite des Sees auf, kommt aber manchmal auch am Nordwestufer vor. Sobki sind kegelförmige Eishügel, die einen hohlen Bereich oder eine Öffnung umgeben, die dem See zugewandt ist. Sopki können als isolierte Einheiten, in Gruppen oder in Serien – einer „Bergkette“ – entstehen, wobei die größten Gebilde eine Höhe von bis zu sechs Metern erreichen. Die offensichtlichen Löcher in den Sopki unterscheiden sie von den typischen Eishügeln im Uferbereich, die durch Wasserwellen und Spritzwasser entstehen. Die Analyse von Gaseinschlüssen in den Eisstrukturen ergab erhöhte Methankonzentrationen im Vergleich zu atmosphärischen Werten und zu den im umgebenden Eis gemessenen Werten.

Kilometerdicke Eisschicht auf dem Wostoksee

Die Bildung von Methan ist auch in den nördlichen Polargebieten ein Thema: Durch den Temperaturanstieg bilden sich im Permafrost immer mehr Seen. In diesen wird das Treibhausgas Methan freigesetzt, das seit Jahrmillionen im Eis gebunden war – das heizt die Klimaerwärmung weiter an.

Einer der größten See der Erde hat mich ebenfalls sehr beschäftigt – der Wostoksee. Dass kaum jemand diesen See kennt, ist nicht verwunderlich: Man kann ihn nicht sehen. Er liegt in der Antarktis unter einer kilometerdicken Eisschicht. Gibt es dort unten Leben? Der See hat wegen des Eises seit Jahrtausenden oder gar Jahrmillionen keinen Kontakt zur Solarstrahlung und zur Atmosphäre mit deren Sauerstoff. Die Bedingungen sind daher vergleichbar mit denen auf den Eismonden im Sonnensystem wie etwa beim Jupitermond Europa und beim Saturnmond Enceladus. Um Wasserproben zu entnehmen, haben Forschende durch vier Kilometer dickes Eis gebohrt – und dort konservierte Kleinstlebewesen und Mikroorganismen gefunden.

Badewannentemperatur 70 Meter unter dem Eis

Ein weiteres Phänomen ist der ebenfalls antarktische, sehr salzhaltige Vandasee. Der fast 70 Meter tiefe See hat in seinen unteren Schichten die Badewannentemperatur von 25 Grad Celsius. Die ausgeprägte Schichtung des Sees führt dazu, dass sich das Wasser der unteren Schichten nicht mit dem der oberen vermischt. Wenn nun Sonneneinstrahlung das Wasser erwärmt, bleibt die Temperatur in der Tiefe des Sees höher, auch wenn es sich oben wieder abkühlt. Über die Jahrhunderte wurde es so am Seegrund immer wärmer. In den letzten Jahren haben Forschende beobachtet, dass im Vandasee die Süßwasserschicht unter dem Eis mehrere Meter dick geworden ist.

Eis und Wärme – diese zwei scheinbaren Gegensätze faszinieren mich. Auch die Kälte an meinen Arbeitsorten kann mich nicht schrecken. Selbst stundenlanges Stehen auf dem Eis und Hantieren im Wasser machen mir nichts aus. Das liegt aber nicht daran, dass ich gerne friere, sondern weil ich fasziniert bin: Die Natur in Schnee und Eis ist spektakulär. Es herrscht eine ganz eigene, ruhige Atmosphäre. Man merkt, wie zerbrechlich alles ist. Früher einmal habe ich die Bilder nordischer Landschaften des US-amerikanischen Malers Rockwell Kent betrachtet und gedacht, so einen Himmel könne es nicht geben. Bei meinen Forschungen hoch im Norden habe ich festgestellt: Solch einen Himmel gibt es! Das ewige Eis jedoch ist endlich.



  1. Vgl. auch die Hinweise im Interview „Mehr Schutz für die Seen“ in diesem Heft, besonders Anm. 2, S. 250 (der gedruckten Ausgabe). ↩︎

  2. „Kilpisjärvi“ bezeichnet sowohl den See als auch ein an seinem Ufer gelegenes Dorf. Kilpisjärvisee ist sprachlich eigentlich eine Doppelung, denn das finnische Wort für „See“ lautet „järvi“. (Anmerkung d. Redaktion) ↩︎