Wandern nach der Gefangenschaft
In den ersten Tagen des Jahres 1988 habe ich in einem kleinen Dorf weit entfernt von Budapest meinen Wehrdienst geleistet. Wir haben damals untereinander über die zu uns kommenden verblüffenden Nachrichten diskutiert: Im Fernsehkabarett am Silvesterabend hat man über Mehrparteiensystem und demokratische Wahlen gescherzt. Obwohl ein unbestimmtes Vorzeichen der Veränderungen tatsächlich zu spüren war, schien uns dieses Thema so unglaublich, dass wir kaum begreifen konnten, wie es ins Kabarett hineingeraten konnte. Als ich nach einem guten halben Jahr im August 1988 aus der Armee entlassen wurde, habe ich die frische Luft im Land schlagartig wahrgenommen.
Wir waren zuversichtlich und euphorisch. Am meisten habe ich auf drei Tendenzen gehofft: auf einen Demokratisierungsprozess, auf die Geburt der Einheit und – mehr als alles andere – auf die Verbreitung einer ehrlichen, offenen Stimme.
Rückblickend kann ich im Zusammenhang mit dem ersten Thema behaupten, dass große Fortschritte gemacht wurden, obwohl ich noch heute kaum fassen kann, wieso antidemokratische Richtungen 30 Jahre nach der Wende überhaupt noch im öffentlichen Leben auftauchen können.
Sehr schnell hat es sich aber herausgestellt, dass eine neue Polarisierung an die Stelle von Einheit und Partnerschaft getreten ist. Bis heute betrachte ich es als eines der wichtigsten und leider auch traurigsten soziologischen Merkmale der ungarischen Gesellschaft, dass unüberbrückbare Gräben entlang der politischen Überzeugung Familien, Freundschaften und Gemeinschaften voneinander trennen. Diese Schluchten machen offene, perspektivische und zukunftsgerichtete Gespräche unter Menschen mit unterschiedlichen Überzeugungen unmöglich.
Bis heute vermisse ich am meisten Aufrichtigkeit und Geradlinigkeit im öffentlichen Leben. Nicht nur die Akten des Sicherheitsdienstes sind bis heute geheim geblieben, sondern wir wurden aus der „lustigsten Baracke des Ostblocks“ zu einem Land ohne Eigenschaften, in dem eine bizarre Zersplitterung zwischen Überzeugung und Verhalten vorherrscht.
Ich glaube, damals – noch sehr jung – hat mich die Frage am wenigsten beschäftigt, auf welchem Niveau wir leben werden. Eigentlich bin ich bis heute überrascht, wie gut und leicht ich leben kann.
Spätestens seit dem Beginn des Pontifikats von Papst Franziskus wissen wir auch Bescheid darüber, von welcher Wichtigkeit die Grundnachricht des Christentums, nämlich die Zuwendung zu den Armen, Bedürftigen, den „Menschen am Rande“, ist. Um die Wende herum war auch diese Stimme zu hören, es tauchten Organisationen, Menschen auf, die sich ernsthaft mit der Armut befasst haben. Dann ist diese Stimme wieder sehr schnell im öffentlichen Leben verhallt. Vielleicht beginnt gerade jetzt in unseren Tagen ihr Wiedererwachen.
Meine Mutter hat in der Zeit der Wende bei den ungarischen Streitkräften als Buchhalterin gearbeitet. Jeden Monat einmal hat in ihrer Einheit ein Offizier während der Personalversammlung einen Vortrag über die Bedeutung und den Aufbau des Sozialismus gehalten. Nach der Wende hat plötzlich der gleiche Offizier in einer Versammlung einen Vortrag über die Grundprinzipien des Christentums gehalten. Als gläubiger Christ bin ich der Meinung, dass mit uns nichts Schlechteres hätte passieren können, als dass das Christentum gewissermaßen zur Staatsreligion erhoben wurde, was grundsätzlich bis heute gilt.
Die gleichen Prozesse, die ich oben als gesellschaftliches Phänomen beschrieben habe, gehen bzw. gingen ungefähr gleichermaßen in der Kirche vor. Die Wende hat eine plötzliche und kraftvolle Öffnung bewirkt, vor allem in quantitativer Hinsicht: Viele untergetauchte Christen haben einen Schritt hin zur Kirche gewagt. Seitdem haben wir aber erlebt, dass sich nur wenige Aspekte wirklich verändert haben. Ein quasi feudaler Ton und die Trennlinie zwischen den Laien und den Geweihten in der Kirche sind geblieben. Für viele von uns ist es unbegreiflich, dass Ungarn in dieser Hinsicht eines der konservativsten Länder ist. Dabei hat sich auch ein bestimmter Rückblick in die Vergangenheit erhalten, der verhindert, dass wir vorwärts blicken, uns mit der Zukunft beschäftigen und Pläne schmieden.
Das auserwählte Volk musste nach der ägyptischen Gefangenschaft 40 Jahre lang wandern, bis es das Land der Verheißung betreten durfte, und es gab darunter Menschen, die es nicht erreicht haben. Vielleicht braucht die ungarische Kirche auch eine vierzigjährige Wanderschaft. Und vielleicht bedarf auch die ungarische Gesellschaft einer neuen Generation, die das alte Regime nicht gekannt hat und es daher nicht als Bezugspunkt braucht.
Ich bin froh, dass ich heute leben kann, in einer viel schöneren Welt als die, in der ich geboren worden bin. Ich wandere gern und hoffe aufrichtig, dass wir uns dem Land der Verheißung nähern.