Zur Religiosität muslimischer Jugendlicher in Deutschland. Ein Gespräch mit Clauß Peter Sajak
Prof. Dr. theol. habil. Clauß Peter Sajak ist Theologe und Religionspädagoge und hat den Lehrstuhl für Religionspädagogik und Didaktik des Religionsunterrichts an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster inne. Seine Arbeitsschwerpunkte sind u. a. das interreligiöse Lernen und der christlich-islamische Dialog. – Die Fragen stellte Thomas Bremer.
Gibt es charakteristische Züge in der Religiosität muslimischer Jugendlicher, die in Deutschland wohnen, im Vergleich zu christlichen Jugendlichen? Was sind die Gemeinsamkeiten, was die Unterschiede?
Religion hat für muslimische Jugendliche sicherlich insgesamt einen höheren Stellenwert als für christliche, das zeigen alle empirischen Studien aus diesem Bereich. Besonders deutlich wird dies in der jüngsten Shell-Studie1, wo die Wichtigkeit des Glaubens an Gott für die Lebensführung von jungen Muslimen mit wesentlich größerem Nachdruck betont wird als von evangelischen und katholischen jungen Christen. Hier erklären 76 Prozent aller befragten muslimischen Jugendlichen, dass für sie der Glaube an Gott von zentraler Bedeutung für die persönliche Lebensführung ist. Bei christlichen Jugendlichen fällt dies wesentlich nüchterner aus: 45 Prozent aller Katholiken betonen aber immerhin eine solche Bedeutsamkeit von Religion und Glaube sowie 37 Prozent der evangelischen Christen. In verschiedenen anderen Studien, die allerdings z. T. über zehn Jahre alt sind, gewinnt man das recht einheitliche Bild, dass für in Deutschland lebende muslimische Jugendliche das religiöse Wissen, eine Ethik der Lebensführung aus religiösen Geboten und die Feier religiöser Zyklen und Feiertage eine insgesamt größere Bedeutung hat als für christliche Jugendliche beider Konfessionen hierzulande.
Wie verändern sich das religiöse Leben und die religiösen Einstellungen, wenn junge Muslime nach Deutschland kommen?
Mir sind noch keine Studien bekannt, in denen die Religiosität, geschweige denn die Veränderung von religiösem Glauben bzw. religiösen Praktiken der nach Deutschland geflüchteten Kinder und Jugendlichen muslimischen Glaubens untersucht worden sind. Die Migrationsforschung aus historisch-systematischer Perspektive vertritt aber bis heute die These, dass für Menschen auf der Flucht angesichts der potenzierten Kontingenz in ihrem Leben Religion und Glaube natürlich wichtiger werden. Der Beispiele gibt es viele, von den in die USA ausgewanderten Juden und Katholiken über die postkolonialen muslimischen und hinduistischen Gemeinden in Frankreich und England bis hin zu den Moscheegemeinden der so genannten türkischen Gastarbeiter der ersten Generation in der Bundesrepublik Deutschland.2 Zugleich wird vielfach die Erfahrung gemacht, dass gerade muslimische Jugendliche in der Auseinandersetzung mit der Kultur ihres Ankunftslandes Deutschland durchaus Konzessionen an die religiöse Lebensführung machen und nach einigen Monaten in ihrer religiösen Praxis eher nachlässig werden. Wunderbar beschrieben ist das exemplarisch in dem Erfahrungsband von Amir Baitar und Henning Sußebach „Unter einem Dach“, in dem ein Syrer und ein Deutscher die gemeinsame Geschichte einer Flüchtlingsintegration erzählen.3 Aus wissenschaftlicher Perspektive lassen sich hier allerdings keine verbindlichen Auskünfte geben.
Lassen sich signifikante Unterschiede zwischen hier geborenen und aufgewachsenen Muslimen und solchen, die nach Deutschland gekommen sind, aufzeigen?
Ja, denn die Frage, wie sich die Religiosität von Zuwanderern der ersten, der zweiten und der dritten Generation unterscheidet, ist sehr genau untersucht worden, u. a. durch eine Interview-Studie im Auftrag der Deutschen Islamkonferenz (DIK) im Jahre 2009 und eine ausführliche Emnid-Befragung aus dem Jahre 2016, die der Münsteraner Religionssoziologe Detlev Pollack unter Türkischstämmigen in Deutschland durchgeführt hat. Beide Studien zeigen deutlich, dass Religiosität und religiöse Praxis von Menschen der zweiten und dritten Einwanderergeneration deutlich nachlassen bzw. wesentlich weniger ausgeprägt sind als in der ersten Einwanderergeneration. Dies gilt insbesondere für Menschen aus der Türkei, die in beiden Studien vornehmlich befragt worden sind. So sank der Anteil der Befragten mit türkischem Hintergrund, die wöchentlich eine Moschee besuchen, von 32 Prozent in der ersten Generation auf 23 Prozent in der Kohorte, die bereits in Deutschland geboren worden war. Auch beim persönlichen Gebet unterschieden sich die Zahlen entsprechend: So geben 55 Prozent der ersten Generation an, ein tägliches persönliches Gebet (Dua) zu sprechen, während dies nur noch 35 Prozent der zweiten und dritten Einwanderergeneration tun. Dass Frauen in der Öffentlichkeit ein Kopftuch tragen sollen, wird in der ersten Einwanderergeneration noch von 39 Prozent der Befragten befürwortet, in der Nachfolgegeneration sind es nur noch 27 Prozent. Dem entspricht der Anteil der muslimischen Frauen, die tatsächlich ein Kopftuch tragen, denn der ging von 41 Prozent in der ersten Einwanderergeneration auf 21 Prozent unter den in Deutschland Geborenen zurück. Lediglich in der Frage der religiösen Selbsteinschätzung ist die zweite und dritte Einwanderergeneration entschiedener: Hier bezeichnen sich tatsächlich 72 Prozent der in Deutschland geborenen Muslime mit türkischstämmigen Wurzeln als „tief“ oder „eher“ religiös“, während dies unter den aus der Türkei Zugewanderten der ersten Generation nur 62 Prozent sind. Diesen scheinbaren Widerspruch zu allen anderen Ergebnissen der Befragung im Bereich von Religion erklärt die Münsteraner Gruppe wie folgt: „Möglicherweise spielen die Antworten auf diese Frage weniger die ‚tatsächlich gelebte‘ Religiosität wider als vielmehr ein demonstratives Bekenntnis zur eigenen Kultur und Herkunft.“4
Inwieweit hängt die Religiosität mit den Herkunftsländern zusammen?
Prinzipiell ist mit Blick auf muslimische Jugendliche natürlich zwischen sunnitischen und schiitischen Herkunftskontexten zu unterscheiden. Mit Blick auf die Muslime in Deutschland ist generell festzustellen, dass die meisten von ihnen aus der Türkei stammen bzw. aus Familien, die aus der Türkei eingewandert sind, nach einer Hochrechnung der Deutschen Islamkonferenz aus dem Jahre 2015 ca. 2,2 Millionen Muslime. Diese sind in der Regel Sunniten. Genauso verhält es sich mit den in der Statistik folgenden nächsten beiden Einwanderungskontexten. Dies sind nämlich Muslime aus dem Nahen Osten – ca. 248.000 Menschen – und aus Nordafrika – ca. 200.000 Einwanderer –, beides auch sunnitische Kulturräume. Schiitischen Glaubens sind dagegen jene Menschen, die iranische Wurzeln haben bzw. deren Familien aus dem Iran eingewandert sind. Sie stellen die zweite große Bekenntnisgruppe bzw. -strömung innerhalb des Islam dar, die allerdings in Deutschland nur 68.000 Gläubige umfasst. Alles in allem kann man also über die in Deutschland lebenden Muslime die Aussage treffen, dass sie in der Regel sunnitischen Glaubens sind und einen türkischen, arabischen oder nordafrikanischen Hintergrund haben.5 Davon erforscht worden sind, wie in meiner Antwort zuvor bereits zitiert, lediglich die türkischstämmigen Einwanderer.
Gibt es etwas „typisch Deutsches“ an der Haltung hier lebender muslimischer Jugendlicher zu ihrer Religion?
Das Leben der jungen Muslime in Deutschland ist wie auch das der Nichtmuslime geprägt von der für dieses Lebensalter typischen Suche nach Identität, Gemeinschaft und Orientierung. Dabei sehen sie sich natürlich in Schule, Freizeit wie Beruf den kulturellen Mustern und Mechanismen der Mehrheitsgesellschaft ausgesetzt. Die biographischen Hintergründe ihrer Eltern treten dagegen oft in den Hintergrund. So ist auch unter jungen Muslimen eine Vervielfältigung von Jugendszenen und Jugendtrends erkennbar. Man könnte positiv akzentuiert sagen, die Ausdifferenzierung einer muslimischen Jugendkultur in analogen Szenen und Trends ist der Ausdruck und die Manifestation einer gelungenen Einbürgerung des Islam in Deutschland.6 Und: Wie auch ihre christlichen Altersgenossen stehen die muslimischen Jugendlichen in einer wissenschaftsorientierten und säkularen Gesellschaft vor der Herausforderung, ihren eigenen Glauben und ihre religiöse Lebenspraxis kognitiv zu reflektieren und rational zu kommunizieren.7
Welche Rolle spielt der Religionsunterricht – sei der der informelle in den Moscheegemeinden, sei es der in der Schule?
Leider können wir noch keine Aussage über die Bedeutung des islamischen Religionsunterrichts in der öffentlichen Schule auf die Religiosität und die vom Glauben geprägte Lebenspraxis von jungen Muslimen in Deutschland treffen. Dies hängt damit zusammen, dass es einen islamischen Religionsunterricht in konfessioneller Gestalt bisher leider lediglich in Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen als ordentliches Unterrichtsfach gibt, während in anderen Bundesländern immer noch an verschiedenen Organisationsformen und Modellen herumgedoktert wird. Entsprechend gibt es auch noch keine empirische Forschung zur Bedeutung des Religionsunterrichts für Muslime in Deutschland, auch wenn meine Kollegin Judith Könemann, mein Kollege Rauf Ceylan und ich gerade an der Konzeptionierung und Pilotierung einer solchen Studie arbeiten. Die Bedeutung der Koran-Kurse und des Koran-Unterrichts in den Moscheegemeinden scheint mir weiterhin immens hoch zu sein. Es gehört zum guten Ton unter muslimischen Eltern, ihre Kinder zur religiösen Wissensvermittlung und Entwicklung religiöser Kompetenz dem Imam der jeweiligen Moscheegemeinde anzuvertrauen. Inwieweit diese gemeindliche Form der religiösen Bildung allerdings erfolgreich ist, lässt sich schwer sagen. Vereinzelte Studien zeigen, dass auch hier die Wirksamkeit und die Nachhaltigkeit religiösen Lernens ähnlich schwach ausgeprägt ist wie in der christlichen Gemeindekatechese.8
Fußnoten:
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Jugend 2015. Eine pragmatische Generation im Aufbruch. Hrsg. von der Shell-Deutschland-Holding. Frankfurt (Main)/Hamburg 2015. ↩︎
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Saskia Sassen: Migranten, Siedler, Flüchtlinge. Von der Massenauswanderung zur Festung Europa. Frankfurt (Main) 1996 u. ö. sowie Hans Joas: Religion als Integrationshindernis? In: Ulrich Hemel, Jürgen Mannemann (Hrsg.): Heimat finden – Heimat erfinden. Politisch-philosophische Perspektiven. Leiden/Paderborn 2017, S. 151-156. ↩︎
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Amir Baitar, Henning Sußebach: Unter einem Dach. Ein Syrer und ein Deutscher erzählen. Reinbek 2016. ↩︎
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Detlev Pollack (u. a.): Integration und Religion aus der Sicht von Türkeistämmigen in Deutschland. Repräsentative Erhebung von TNS Emnid im Auftrag des Exzellenz-Clusters „Religion und Politik“ der Universität Münster. Münster 2016, hier S. 12. Zur Befragung im Auftrag der Deutschen Islamkonferenz vgl. Matthias Rohe: Der Islam in Deutschland. Eine Bestandsaufnahme. München 2016, S. 89-93. ↩︎
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Alle Zahlen sind zitiert aus Anja Stichs: Wie viele Muslime leben in Deutschland? Eine Hochrechnung über die Anzahl der Muslime in Deutschland zum Stand 31. Dezember 2015. Im Auftrag der Deutschen Islamkonferenz. Berlin 2016. ↩︎
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Götz Nordbruch: Deutsch und/oder Muslim? – Muslimische Jugendliche in Deutschland. Berlin 2011 (http://www.ufuq.de/deutsch-undoder-muslim-muslimische-jugendliche-in-deutschland/; letzter Zugriff: 29.11.2021). ↩︎
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Sylvia Kaweh: Religion und Identität junger Muslime in Deutschland. Stuttgart 2006, S. 1. ↩︎
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Ebd., S. 3. ↩︎