OWEP 4/2006
Schwerpunkt:
Die Slowakei
Editorial
Um das durchschnittliche Wissen über die Slowakei in der deutschen Öffentlichkeit zu veranschaulichen, reichen zwei Beispiele aus der Presse aus. Im Wirtschaftsteil der Zeitungen ist vom „Tatra-Tiger“ die Rede, Symbol für rasanten wirtschaftlichen Aufschwung in einem Land, das bis vor kurzem im „Hinterhof Europas“ lag. Im Sportteil erscheint die Slowakei immer wieder, wenn es um Eishockey geht – nur leider wird aus dem slowakischen Profi schnell ein Tscheche, was eine gewisse Tradition hat. Als es noch die Tschechoslowakei gab, waren, wie Jaroslav Šonka in vorliegendem Heft schreibt, gerade deutsche Sportreporter Weltmeister in der Abkürzung: Jeder Tschechoslowake war einfach ein Tscheche, auch wenn er in Wirklichkeit ein Slowake war.
Wie so oft spielen Geographie und Geschichte eine wesentliche Rolle bei der Einschätzung eines Staates und eines Volkes. Man kann im Blick auf die Slowakei durchaus von einer „verspäteten Nation“ sprechen, denn erst im 20. Jahrhundert entstand in zwei völlig unterschiedlichen Anläufen die Slowakei als eigenständiger Staat. Fast ein Jahrtausend lang war die Heimat der Slowaken Bestandteil des Königreichs Ungarn. Wirtschaft, Kultur, auch religiöses Leben erhielten dadurch ihre besondere Prägung. Immer wieder bestand die Gefahr eines Verlustes der nationalen Identität. Als die Slowakei nach 1918 Teil der Tschechoslowakei wurde, sollte sich die Hoffnung auf eine gleichberechtigte Entwicklung mit dem größeren slawischen Nachbarn rasch als trügerisch erweisen. „Prag“ dominierte, „Bratislava“ und die ganze Slowakei blieben in der Entwicklung zurück. Auch in der kommunistischen Zeit änderte sich wenig, letzten Endes zerbrach die Tschechoslowakei daran.
Seit 1993 hat die Slowakei eine stürmische wirtschaftliche Entwicklung vollzogen, jedoch zu Lasten der gesellschaftlichen und politischen Kultur. Sie bildet innerhalb Europas ein wichtiges Brückenland zwischen Ost und West, mit einer überraschenden Vielfalt in nationaler, kultureller und religiöser Hinsicht. Das vorliegende Heft möchte Anstöße geben, sich damit ein wenig zu beschäftigen.
Die Redaktion
Kurzinfo
Mit den kleineren Staaten in Mittel- und Osteuropa ist es so eine Sache: Slowenien, Kroatien, Slowakei – irgendwie sind sie noch nicht so richtig ins Bewusstsein der meisten Zeitgenossen getreten. Bei der Slowakei handelt es sich zudem aus deutscher Sicht um den ferneren Teil der ehemaligen Tschechoslowakei, von dem man allenfalls noch die Begriffe „Tatra“ und den deutschen Namen der Hauptstadt Bratislava, nämlich Pressburg, kennt. Auch hier wirken immer noch die unsichtbaren Grenzen des „Eisernen Vorhanges“ nach, der diesen Teil Europas fast fünfzig Jahre vom westlichen Europa abschottete. Das vorliegende Heft will mit ausgewählten Beiträgen versuchen, die Slowakei dem westeuropäischen Leser ein wenig näher zu bringen.
Am Beginn steht ein historischer Überblick von Prof. Dr. Stanislav J. Kirschbaum (Dozent an der York University/Glendon College in Toronto, Kanada), der neben der geographischen und ethnischen Grundlegung auch eine Skizze über die mehr als tausendjährige Geschichte des slowakischen Volkes bietet, dem sich erst im 20. Jahrhundert in zwei Anläufen der Weg zur nationalen Unabhängigkeit öffnete. Der vom Autor gewählte Titel „Überlebenskampf der Slowakei“ mag etwas zu scharf klingen, trifft aber doch ziemlich genau diese Entwicklung.
Zwei weitere Beiträge führen den Leser mitten hinein in die aktuellen gesellschaftlichen und politischen Probleme, mit denen die Slowakei seit ihrer Unabhängigkeit 1993 zu kämpfen hat. Der Publizist Jaroslav Daniška („Impulzrevue“, Bratislava) beschreibt die parteipolitischen Strukturen, in denen sich die Zerrissenheit der Gesellschaft spiegelt. Als Hauptprobleme macht er die Hinterlasssenschaften der kommunistischen Vergangenheit und die Herausforderungen der westlichen Gesellschaft aus; beide Problemstellungen sind noch nicht ausreichend aufgearbeitet. Ähnlich schwierig zeigt sich, wie der Beitrag des Deutschland-Korrespondenten der slowakischen Wirtschaftszeitung „TREND“, Peter Rival, belegt, der ökonomische Umbruch: Binnen weniger Jahre erreichte die slowakische Wirtschaftsentwicklung höchste Zuwachsraten in Europa und konnte durch günstige Gesetze Investoren aus aller Welt anlocken, freilich um den Preis einer enormen sozialen Schieflage, die zu einer Verarmung breiter Bevölkerungsschichten führte.
Welche Rolle spielt in diesem Zusammenhang die katholische Kirche in einem Land, dessen Bevölkerung überwiegend katholisch ist und als sehr religiös gilt? Der in Wien lehrende slowakische Theologe Prof. Dr. Pavel Mikluščák geht dieser Frage unter historischen und soziologischen Prämissen nach. Eine andere, in vielerlei Hinsicht unbekannte Welt wird im anschließenden Beitrag von Bischof Ján Babjak SJ vorgestellt. Er leitet die griechisch-katholische Eparchie (Diözese) in Prešov im Osten der Slowakei und führt in die Geschichte und Gegenwart dieser faszinierenden Glaubensgemeinschaft ein.
Eine Nation im „Überlebenskampf“ muss sich anderer Völkern und deren Ansprüchen, sei es politisch, wirtschaftlich oder kulturell, erwehren. Für die Slowaken gilt dies im Hinblick auf die slawischen Brüder im Westen, die Tschechen, auf die Deutschen als eine die Kultur und Wirtschaft lange Zeit prägende Minderheit und vor allem auf die Ungarn, zu deren Reich das Gebiet der Slowakei mehr als tausend Jahre gehörte. Der tschechische Publizist Dr. Jaroslav Šonka (Berlin) skizziert in markanten Strichen das aktuelle Verhältnis der Slowaken zu den Tschechen und umgekehrt; entsprechendes gilt für den Beitrag des Historikers Prof. Dr. Rudolf Grulich (Königstein/Gießen) über die Slowakei und „ihre“ Deutschen. Das spannungsreiche Verhältnis zu Ungarn klingt in den bereits vorgestellten Beiträgen wiederholt an und wird auch in der Reportage der in Bratislava lebenden Journalistin Karin Bachmann, die sich mit der politischen Lage der Slowakei nach den Parlamentswahlen im Juni 2006 befasst, thematisiert.
Eine Länderinformation von Martin Lenz (Projektreferent von Renovabis), die die statistischen Eckdaten bietet, sowie zwei aktuelle Dokumente runden das Heft ab. Außerhalb des Schwerpunktthemas steht ein kurzer Beitrag von Priv.-Doz. Dr. Eva-Maria Stolberg (Universität Bonn) über die Weichsel, einen der Hauptströme des östlichen Mitteleuropa.
Dr. Christof Dahm