OWEP 3/2009
Schwerpunkt:
Kirchen der östlichen Tradition
Editorial
In einem populärwissenschaftlichen Handbuch aus den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts steht folgende Formulierung: „Die Ostkirchen bilden den unbekannten und oft missverstandenen Zweig des Christentums.“ An dieser Einschätzung hat sich seither trotz mannigfacher Kontakte zwischen Ost und West wenig geändert. Mehr noch: Viele Christen „westlicher“ Tradition, Katholiken ebenso wie Protestanten, wissen wenig über die große Tradition des christlichen Ostens und reagieren verunsichert oder sogar abweisend, wenn sie den Riten und Zeichen der Ostkirchen begegnen.
Das vorliegende Heft versucht, in mehreren Schritten ein wenig Licht in die oft komplexen Zusammenhänge zu bringen. Zu den Kirchen östlicher Traditionen gehören die christlichen Kirchen, die unter dem Sammelbegriff „Orthodoxie“ geführt werden, ebenso wie die christlichen Kirchen des Orients, die sich in der Frühgeschichte des Christentums bis nach Indien und China ausgebreitet haben. Ihre Entfaltung, ihre Geschichte, die Folgen des Kommunismus für die Kirche in Osteuropa, das Schicksal der mit Rom verbundenen Ostkirchen, der ökumenische Prozess – diesen Bereichen widmen sich die Hauptartikel des Heftes.
Wichtig ist für das gegenseitige Verständnis auch die persönliche Erfahrung. So kommen Studierende aus den Ländern der Ostkirchen zu Wort, die ihr Leben im westlich-säkularen Umfeld schildern und zugleich Einblicke in ihre religiöse Heimat vermitteln. Immer wieder wird dabei auf die Frömmigkeitsformen der Ostkirchen hingewiesen. Ihnen ist ein eigener Beitrag gewidmet.
„Unbekannt und missverstanden“ und wohl auch unterschätzt: Gerade in der heutigen Zeit, in der in Westeuropa oft von Sinnkrise und Orientierungslosigkeit die Rede ist, kann die ostkirchliche Tradition wichtige Impulse zur Einkehr vermitteln. Unser Heft möchte dazu einen Beitrag leisten.
Die Redaktion
Kurzinfo
Wenn ein Katholik in Westeuropa auf Christen anderer Konfession angesprochen wird, denkt er zunächst an die Christen, die sich zu den aus der Reformation hervorgegangenen Kirchen bekennen. Ein Deutscher wird einen lutherischen Christen zum Nachbarn haben, ein Franzose einen kalvinistischen. Beide wissen oft jedoch nicht, dass in ihren Ländern auch Christen einer anderen Tradition leben, und das in wachsender Zahl. Seit den politisch-gesellschaftlichen Umwälzungen in Mittel- und Osteuropa haben viele Menschen aus diesem Teil Europas ihre Heimat aus unterschiedlichen Gründen verlassen, viele auf Dauer. Aus Ost- und Südosteuropa, d. h. besonders aus der Ukraine, Russland und den Ländern der Balkanhalbinsel sind damit Christen in den Westen gekommen, die der ostkirchlichen oder – so der gebräuchlichere Begriff – „orthodoxen“ Tradition angehören. Aber schon darin liegt eine Verkürzung: Es handelt sich um unterschiedliche Traditionen, die je nach Herkunft der Christen eine nationalkirchliche Ausprägung aufzeigen.
Außerdem unterscheiden sich die Ostkirchen in ihrem Verhältnis zur katholischen Kirche erheblich voneinander. In der Ukraine, Rumänien, der Slowakei und vielen anderen Ländern gibt es zahlenmäßig bedeutende Ostkirchen, die mit dem Heiligen Stuhl in Verbindung (Union) stehen und daher auch als unierte Kirchen bezeichnet werden. Gebräuchlich ist aber auch der Begriff „griechisch-katholische Kirche“, womit die Herkunft dieser Kirchen aus der griechisch-byzantinischen Tradition gekennzeichnet wird. Besonders in der Liturgie, aber auch in vielen anderen Formen und Zeichen stimmen die unierten Kirchen mit den orthodoxen Kirchen überein, die ihrerseits in einer nicht immer spannungslosen Verbindung mit dem Ökumenischen Patriarchat von Konstantinopel stehen.
Diese kurzen Hinweise deuten bereits die verwirrende und für den Außenstehenden oft schwer zu verstehende Welt der ostkirchlichen Traditionen an. Das vorliegende Heft will daher, auch wenn es nur einige Bereiche erläutern kann, zu einer besseren Kenntnis des östlichen Christentums beitragen. Dem gegenseitigen Verständnis von Ost- und Westkirche dienen die beiden kurzen Einführungen von Metropolit Filaret von Minsk und Sluzk, dem Patriarchalexarchen von ganz Weißrussland, und Walter Kardinal Kasper, dem Präsidenten des Päpstlichen Rates zur Förderung der Einheit der Christen. Daran schließt sich ein breiter Überblick von Prof. Dr. Thomas Bremer, Universität Münster, über die Geschichte und heutige Verbreitung der östlichen Kirchen an; er streift darin auch die altorientalischen Kirchen, die ebenfalls zur östlichen Tradition gehören.
Jahrhundertelang herrschte Gegnerschaft, zum Teil leider auch Feindschaft zwischen „Westkirche“ und „Ostkirche“, viele Missverständnisse bestehen bis heute fort. Im 20. Jahrhundert hat dann die ökumenische Bewegung viele ermutigende Zeichen gesetzt, und besonders seit der Wende von 1989/90 wurden wichtige Schritte unternommen. Dr. Johannes Oeldemann, Johann-Adam-Möhler-Institut für Ökumenik in Paderborn, zeichnet in seinem Beitrag die Etappen dieses Weges nach. Einen Brennpunkt des Miteinanders verschiedener kirchlicher Traditionen bildet die Ukraine; zugleich berufen sich dort alle christlichen Konfessionen auf die Bedeutung der Metropole Kiew für die Christianisierung der Ostslawen. Prof. Dr. Antoine Arjakovsky, Institut für Ökumenische Studien an der Ukrainischen Katholischen Universität in Lviv, skizziert die Phasen des ökumenischen Gesprächs in der Ukraine mit der Vision einer „Kiewer Kirche“. Einen anderen Akzent setzt Erzbischof Jeremiasz, Erzbischof der Polnischen Autokephalen Orthodoxen Kirche von Wrocław und Szczecin. Seine Ausführungen beschreiben die Geschichte und heutige Situation orthodoxer Christen in Polen.
Ostkirchliches Leben ist für den Christen westlicher Tradition meist mit bestimmten Zeichen und Bildern verbunden: Kirchen mit Zwiebelkuppeln, Ikonen, eigentümliche Gebetsformen. Diese Aspekte stehen im Mittelpunkt des Beitrags von Pater Dr. Gregor Hohmann OSA, Nationaldirektor des Päpstlichen Ostkirchenwerks Catholica Unio, der in seinem Beitrag die ostkirchliche Spiritualität in ihrer Bedeutung für das westliche Christentum vorstellt. Dass ostkirchliches Leben in Deutschland bereits eine lange Tradition hat und Gemeinden oft seit 50 und mehr Jahren bestehen, ist vielfach unbekannt. Stepan Sharko, Priester der ukrainischen griechisch-katholischen Kirche, zeichnet in seinem Beitrag deren Geschichte von den Anfängen nach dem Ersten Weltkrieg bis in die Gegenwart nach.
Vier Beiträge lassen Christen, die in der östlichen Tradition verwurzelt sind, jedoch in Deutschland leben, selbst zu Wort kommen: Irena Pavlović, serbisch-orthodoxe Christin und Doktorandin an der Evangelisch-Theologischen Fakultät Erlangen, sowie Darko Anev aus Makedonien, Aleksandar Marković aus Serbien und Andrej Mironov aus Weißrussland, Stipendiaten des Ostkirchlichen Instituts Regensburg. Ihre Erfahrungsberichte spiegeln je auf ihre Art die Situation von Menschen zwischen den Kulturen und Traditionen wider. Abgeschlossen wird das Heft mit einem Porträt von Erzbischof Hilarion (Alfejew), dem neuen Leiters des Außenamtes des Moskauer Patriarchats, aus der Feder des russischen Theologen Jewgenij Pilipenko.
Dr. Christof Dahm