Reichtum für alle
Wir leben in einer Zeit, in der die christlichen Kirchen das große Klagelied angestimmt haben über eine ständig fortschreitende Verweltlichung des einstmals christlichen Abendlandes. Man spricht auch von einer Verdunstung des Glaubens. Angesichts immer leerer werdenden Kirchen, angesichts des scheinbar bevorstehenden Aussterbens der Klöster und der immer kleiner werdenden Zahl von Neupriestern, die längst keine flächendeckende Seelsorge mehr garantieren können, scheinen die Pessimisten recht zu behalten. Die Frage ist nur: Haben Christen je das Recht, Pessimisten zu sein? Hat der Herr jemals verheißen, dass seine Anhänger eine große, prächtige, einflussreiche und mächtige Weltreligion sein werden? Hat er nicht vielmehr deutlich gesagt: „Ein Knecht ist nicht größer als sein Herr“ (Joh 15,20)? Eines jedenfalls lehrt uns die Kirchengeschichte: Immer wenn die Kirche äußerlich klein und schwach war, dann war sie innerlich stark und brachte Heilige und Martyrer hervor. Immer jedoch, wenn sie groß, mächtig und reich war, dann traf auf sie das Wort Jesu zu: „Ihr seid das Salz der Erde. Wenn das Salz schal geworden ist, womit soll man es dann wieder salzig machen? Es taugt zu nichts weiter, als dass es hinausgeworfen und zertreten wird von den Menschen“ (Mt 5,13). Ein Christentum ohne Salz hinterlässt bei vielen einen faden Geschmack. Sind die Salzvorräte tatsächlich erschöpft? Keineswegs. Ersetzen wir den Begriff „Salz“ durch den Begriff „Geist – Geistigkeit – Spiritualität“, dann wird klar, dass es davon genug gibt, denn Christus hat seinen Jüngern versprochen, dass er Heiligen Geist senden werde. Am Pfingstfest, dem Gründungstag der Kirche, erfüllte sich dieses Versprechen. Der Geist Gottes, die dritte Person der Heiligen Dreieinigkeit, ist über diese Kirche im Sturm gekommen und hat sie nie mehr verlassen. Der Heilige Geist ist seitdem ihr Lebensprinzip. Das nicht zu erkennen, bedeutet schal gewordenes Salz zu sein.
Die Frage nach der Rolle des Heiligen Geistes ist also entscheidend für die Qualität des Christentums. Hier zeigen sich deutliche Unterschiede zwischen den Kirchen des Westens und des Ostens. Westliche Christen verstehen häufig unter Spiritualität zu sehr eine introvertierte, abstrakte, reine Geistigkeit, während sie für die östlichen Christen die Erfahrung von der Wirksamkeit des von Gott durch Jesus Christus gesandten Parakleten, des Heiligen Geistes, ist.
So kommt es oft zum Vorwurf von östlicher Seite, der Westen vernachlässige das Wirken des Heiligen Geistes mit dem Ergebnis, dass im Westen die Lehre vom Heiligen Geist in eine theologische Schieflage geraten sei. Festgemacht wird dieser Vorwurf an der Tatsache, dass im Westen das Glaubensbekenntnis von Nicäa-Konstantinopel (325/381) durch die eigenmächtige Einfügung des Wörtchens „Filioque“ (Ausgang des Heiligen Geistes nicht nur vom Vater, sondern auch „vom Sohn“) bis an den Rand einer Häresie geraten sei, zumal das Konzil von Konstantinopel (381) mit ausdrücklicher Billigung des römischen Papstes ein für allemal festgelegt hatte, dass an diesem Glaubensbekenntnis niemals etwas hinzugefügt oder weggelassen werden dürfe. Es lässt sich sagen, dass das Filioque bis zum heutigen Tag Streitpunkt Nummer eins zwischen Ost und West geblieben ist. Man hält im Osten den Zusatz „Filioque“ deshalb für gefährlich, weil er die Gefahr berge, dass die unterschiedlichen Eigentümlichkeiten der drei göttlichen Personen verwischt werden. In der Westkirche hat es ja auch tatsächlich dazu geführt, dass der Heilige Geist in der Feier des Kirchenjahres und in der Frömmigkeit der Gläubigen ein Schattendasein führt. Ein bekannter Theologe bemerkte dazu: „Man konnte einem Geistlichen in den westlichen Ländern kaum etwas Schlimmeres zumuten, als dass er eine Predigt über den Heiligen Geist halten sollte.“ Im Osten ist das hingegen ein Lieblingsthema. Durch die Sendung des Heiligen Geistes wird für die Menschen erkennbar, dass der dreieinige Gott keine in sich geschlossene Wesenheit ist, die sich für seine Geschöpfe nicht interessiert, sondern eine an Welt und Menschen äußerst interessierte Dreiheit, die wir Personen nennen, weil sie uns ganz „persönlich“ begegnen. Man kann es so formulieren: Der Heilige Geist ist der Gott in uns, der Sohn ist der Gott mit uns und der Vater ist der Gott außer uns.
Gott sei Dank hat sich in der katholischen Kirche seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil einiges geändert. Eines der größten Verdienste des Konzils ist es, dass es die Bedeutung des Heiligen Geistes im Leben der Kirche wiederentdeckt hat, wenigstens in den veröffentlichten Dokumenten. Abt Emmanuel Heufelder OSB von Niederalteich nannte darum das Zweite Vatikanische Konzil ein „Neues Pfingsten“. Ein sichtbares und hörbares Zeichen dieses neuen Bewusstseins ist die Wiedereinführung der Epiklese – der Herabrufung des Heiligen Geistes – auf die Opfergaben innerhalb des Geschehens, das wir „Wandlung“ zu nennen pflegen. In der Ostkirche hat man sich nie den Kopf darüber zerbrochen, an welcher Stelle des eucharistischen Hochgebetes oder, wie man im Osten sagt, der Anaphora, die Wandlung von Brot und Wein in Christi Leib und Blut erfolgt. Sicher ist nur, dass Wandlung nicht allein durch das Aussprechen der Einsetzungsworte Jesu erfolgt, sondern dass Wandlung erst dann vollendet ist, wenn der Priester Gott Vater angerufen hat mit den Worten: „Mache dieses Brot zum kostbaren Leib Deines Christus – und was in diesem Kelch ist, zum kostbaren Blut Deines Christus – und verwandle sie durch Deinen Heiligen Geist.“ Im erneuerten römischen Ritus findet sich die Epiklese in folgender Form vor: „Sende Deinen Heiligen Geist auf diese Gaben herab und heilige sie, damit sie uns werden Leib und Blut Deines Sohnes, unseres Herrn Jesus Christus“. Auch im römischen Ritus kommt jetzt also deutlicher als früher zum Ausdruck, dass es nicht der Priester ist, der wandelt, sondern dass er nur der Bevollmächtigte ist, der den Heiligen Geist auf die Gaben herabruft, damit Er sie wandle. Ähnlich ist es auch bei allen anderen Sakramenten. Ohne das Wirken des Heiligen Geistes geschieht nichts. Auch in der Absolutionsformel bei der Beichte in der römischen Kirche wird jetzt der Heilige Geist erwähnt, wenn der Priester spricht: „Gott, der barmherzige Vater hat durch den Tod und die Auferstehung seines Sohnes die Welt mit sich versöhnt und den Heiligen Geist gesandt zur Vergebung der Sünden.“
In einigen Ostkirchen, wie zum Beispiel bei den Kopten Ägyptens, wird selbst bei der Wahl des neuen Patriarchen dem Heiligen Geist noch Raum gelassen und zwar dergestalt, dass drei Zettel mit den Namen von drei Kandidaten in einen Kelch gelegt werden. Sodann bekleidet man einen kleinen Knaben mit einem Diakonsgewand und lässt ihn einen Zettel aus dem Kelch nehmen und so den nächsten Patriarchen wählen. Ähnlich haben es schon die Apostel gemacht, als sie den Nachfolger für Judas Iskariot bestimmen mussten. Durch Losentscheid kam Matthias ins Apostelkollegium.
Weit mehr als es die Kirche des Westens tut, betont die Ostkirche immer wieder, dass der göttliche Geist das Fundament unseres Glaubens und die Grundlage unserer christlichen Existenz, ja unseres Christseins ist. Deshalb werden wir im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes getauft. Das ist keine leere Formel, sondern bedeutet, dass wir tatsächlich ein neues Leben beginnen. Der Hl. Athanasius, Kirchenvater aus dem vierten Jahrhundert, sagt: „Wenn wir an den Heiligen Geist nicht glauben, dann hat auch unsere Taufe nicht die Fülle des Heils.“ Es geht also im Leben des Christen um ein Leben aus dem Geist. Fragt man einen Christen des Westens, worum es im christlichen Leben letztlich geht, wird man wahrscheinlich die Antwort erhalten, es gehe darum, ein anständiger Mensch zu sein und die Gebote zu halten, nach dem Motto „Edel sei der Mensch, hilfreich und gut.“ Das ist im Prinzip lobenswert, aber ohne die mächtige Wirkung des Heiligen Geistes kann auf die Dauer kein Mensch edel, hilfreich und gut sein.
Ein besonders wichtiger Aspekt ist folgender: Spiritualität, d. h. Umgang mit dem Heiligen Geist und seinen Gaben, ist keine Sondererscheinung für bestimmte, auserlesene Gruppen, etwa die sogenannten Charismatiker. Spiritualität ist vielmehr etwas, das alle Glieder der Kirche angeht; sie ist das Lebensprinzip des Organismus Kirche, der göttliche Atem, der die Kirche belebt und zusammenhält. Das ist es, was heutzutage so viele Christen, vor allem des Westens, nicht begreifen wollen. Kirche ist keine Organisation nach dem Vereinsrecht, jedenfalls ist sie das nur zu einem geringen Teil. Äußere Strukturen sind nicht das Wesen der Kirche. Immer, wenn reformfreudige Christen nur Strukturen verändern wollen in der Kirche, dann wird damit kaum die bessere, vollkommenere Kirche erreicht werden. Die unzähligen Reformen und dann wieder die Reformen der Reformen, die wir in den letzten Jahrzehnten in unserer Kirche erlebt haben, haben jedenfalls nicht das erhoffte Ergebnis gebracht. Reformieren mit spürbar positiver Wirkung kann letztlich nur der Heilige Geist, das Lebensprinzip dieser Kirche. Wirken kann er jedoch nur dort, wo man ihn wirken lässt. Wenn alle Reformbemühungen so wenig oder gar keine Wirkung zeigen, muss es wohl daran liegen, dass man dem Heiligen Geist nicht genug Raum gelassen hat. Der berühmte Pfingsthymnus der byzantinischen Kirche belehrt die Gläubigen so: „A l l e s gibt der Heilige Geist: Weissagungen lässt er hervorquellen, Er vollendet Priester, die Unwissenden lehrt Er Weisheit, Fischer macht Er zu Gottesgelehrten. Er stiftet seine heilige Kirche. Dem Vater und dem Sohn wesensgleich, mit beiden gleichen Thrones, Tröster Geist, Ehre sei Dir.“ Damit ist gesagt, dass die Glaubenswahrheiten für den orthodoxen Gläubigen niemals nur mit dem Verstand festzuhaltende Lehrsätze sind, sondern Wahrheiten, die in die Anbetung und Verherrlichung Gottes einmünden sollten. Wenn man die großartigen Texte der eucharistischen Liturgie und vor allem die unerschöpfliche Fülle der byzantinischen Hymnen des Stundengebets betrachtet, dann wird einem klar, was gemeint ist, wenn Theologie in der Ostkirche als Verkündigung und Anbetung aufgefasst wird.
Wie z. B. das Geheimnis der Menschwerdung des Gottessohnes aus Maria der Jungfrau in einem Lied in unnachahmlicher Kürze und Poesie besungen wird, zeigt das folgende Troparion1 des Weihnachtsfestes: „Was sollen wir dir darbringen, o Christus? Erschienen bist du auf Erden als Mensch, um unseretwillen. Jedes deiner Geschöpfe bringt dir ein Dankgeschenk: die Engel ihr Singen, der Himmel den Stern, die Weisen ihre Gaben, die Hirten ihr Staunen, die Erde ihre Höhle, die Einöde die Krippe, wir aber die Mutter und Jungfrau.“ Es versteht sich von selbst, dass solche Texte unmöglich als Teile einer Pflichtübung, oder wie wir es im Westen nennen, eines in einem „Brevier“ zusammengefassten „Offiziums“ absolviert werden dürfen. Sie müssen einfach gesungen, ja gejubelt werden. So ist es denn im byzantinischen Ritus selbstverständlich, dass all diese herrlichen Lieder, die zur Poesie gewordene Theologie sind, nicht einfach gesprochen, sondern immer gesungen werden. Jeder Gottesdienst wird somit zugleich Belehrung über die Glaubensinhalte und Lobpreis und Anbetung des dreifaltigen Gottes. Dem Gläubigen wird dennoch nicht abverlangt, dass er sofort mit dem Verstand begreift. Selbst der große Kirchenvater Basilius bekennt: „Unser Verstand ist schwach, noch schwächer unsere Zunge … Es ist leichter, den Ozean mit einem kleinen Becher auszuschöpfen, als Gottes unaussprechliche Größe mit dem menschlichen Geist zu fassen.“ Theologie, die nicht zu dieser Haltung führt, ist dem östlichen Christen verdächtig. Aus diesem Grund hat sich die Ostkirche auch nie recht mit der scholastischen Theologie der westlichen Kirche anfreunden können. Die Geheimnisse des Glaubens in trockenen Lehrstoff, bestehend aus These, Antithese und Synthese zu zergliedern, heißt für den orthodoxen Theologen nichts weiter als die Glaubensgeheimnisse zu Übungen für geistiges Florettfechten zu erniedrigen.
Theologie muss zum Gebet führen, soll sie ihren Zweck nicht verfehlen. Das ideale Gebet kommt mit wenigen Worten aus. In den Apophtegmata Patrum, der Sammlung geistlicher Sprüche der Wüstenväter Ägyptens, finden wir folgende Aussage über das Gebet: „Was ist reines Gebet? Ein Gebet arm an Worten, aber reich an Taten. Denn wenn deine Taten nicht deine Bitten übersteigen, sind deine Gebete bloße Worte, dann ist die Frucht deiner Hände nicht in ihnen.“2 Weit mehr als es die Kirche des Westens tut, betont die Ostkirche immer wieder, dass der göttliche Geist das Fundament unseres Glaubens und die Grundlage unserer christlichen Existenz, ja unseres Christseins ist. Ein Gebet arm an Worten. Wer denkt da nicht sofort an das kostbarste Gebet der Ostkirche – das Jesusgebet? Das Jesusgebet besteht entweder allein aus der ständigen Wiederholung des Namens „Jesus“, meist jedoch wird folgende, längere Formel verwendet: „Herr, Jesus Christus, Sohn Gottes, erbarme dich meiner, des Sünders.“ Eine solche Anrufung des Namens Gottes ist nicht nur auf das Christentum beschränkt, sondern auch im Hinduismus, Buddhismus und Islam kennt man ähnliche Anrufungen der göttlichen Namen. Der indische Weise Sri Ramakrishna (1836-1886) hat dazu bemerkt: „Wer den inbrünstigen Glauben an die Macht des heiligen Gottesnamens in seinem Herzen trägt und diesen Namen Tag und Nacht wiederholt, bedarf keiner geistlichen Übung mehr. Er überwindet alle Zweifel, sein Herz wird rein, und er erkennt den Herrn durch die Macht seines heiligen Namens.“ Der Vorteil des Jesusgebetes ist, dass es eine Art unsichtbaren Meditationsraum, eine Klosterzelle, schaffen kann, in die sich der Beter zu jeder Zeit und an jedem Ort zurückziehen kann. Das Jesusgebet ermöglicht Sammlung und innere Stille, selbst in der Hektik des Alltags. Der Starez Paisy Velickovski (1722-1794), einer der Hauptverbreiter hesychastischer Gebetsformen3 in Russland, vergleicht das Jesusgebet mit einer Ikone. In einer geweihten Ikone ist der Herr selbst gegenwärtig. Die Anrufung des Namens Jesus im Jesusgebet ist gleichsam eine Ikone aus Worten, welche den Herrn im Herzen des Beters gegenwärtig sein lässt. Im Büchlein „Das Jesusgebet“, bringt der anonyme Schriftsteller, der sich „ein Mönch der Ostkirche“ nennt, folgendes, treffendes Bild: Die Anrufung des Namens Jesu gleicht einem Prisma, das ein Bündel weißen Lichtes in die verschiedenen Farben des Spektrums zerlegt. Wenn wir den allumfassenden Namen anrufen, so benutzen wir den Namen wie eine Linse, die das weiße Licht aufnimmt und bündelt. Mit Hilfe einer Linse kann ein Sonnenstrahl einen brennbaren Stoff entzünden. Der heilige Name Jesus ist eine solche Linse. Die Frucht dieses Gebetes ist, dass der Mensch lernt, in einem Dauerzustand des Gebetes zu verweilen. Das bedeutet nach hesychastischer Auffassung nicht mehr und nicht weniger, als dass der Beter immerzu vom göttlichen Licht, das den verklärten Christus aus dem Berg Tabor umgab, beschienen wird.
Unter Hesychasmus versteht man eine typisch östliche Frömmigkeitsform, von der man heute weiß, dass sie eine erstaunliche Nähe zu manchen fernöstlichen Gebetspraktiken aufweist und daher für suchende Christen des Westens interessant zu werden beginnt. Viele Mönche zogen sich in die Einsamkeit zurück, um in Stille und absoluter Ruhe (hesychia) dem Gebet und der Kontemplation zu obliegen. Daher nannte man diese Bewegung Hesychasmus. Lange Zeit ziemlich außer Mode gekommen, erlebt der Hesychasmus bei nicht wenigen Mönchen des Ostens eine neue Blüte. Auch westliche Menschen haben hier und da begonnen, diese Frömmigkeitsform für sich zu nutzen.
Ein weiterer Zug ostkirchlicher Frömmigkeit ist die anders geartete Auffassung von Sünde. Im Abendland sah man in der Sünde immer mehr die Verletzung des Rechtsverhältnisses zwischen Mensch und Gott. Deshalb hat auch die Beichte im Westen den Charakter einer Gerichtssitzung, die mit dem Freispruch des Angeklagten endet. Im Osten ist Sünde eher ein Wesensschwund, ein Substanzverlust, eine Verwundung, eine Erkrankung der ursprünglichen Gottebenbildlichkeit des Menschen. Die Beichte hat so mehr den Charakter einer Therapie. Die Erlösung ist also weniger die Wiederherstellung eines durch die Sünde gestörten Rechtsverhältnisses, sondern Seinserneuerung, ja Vergöttlichung des Menschen. In diesem Zusammenhang wird immer wieder das berühmte Wort des Hl. Athanasius zitiert: „Gott wurde Mensch, damit der Mensch Gott werde.“ Zu dieser „Vergöttlichung des Menschen“ – dem Lieblingsbegriff der orthodoxen Erlösungslehre – schreibt ein westlicher Psychotherapeut, von dem man es nicht ohne weiteres erwartet hätte, nämlich C. G. Jung, Folgendes: „Wenn in der Seele nicht erfahrungsgemäß höchste Werte lägen, so würde mich die Psychologie nicht im Geringsten interessieren, da die Seele dann nichts als ein armseliger Dunst wäre. Ich weiß aber aus hundertfacher Erfahrung, dass sie das nicht ist, sondern dass sie vielmehr die Entsprechung all jener Dinge enthält, welche das Dogma formuliert hat, und einiges darüber hinaus, was eben die Seele befähigt, jenes Auge zu sein, dem es bestimmt ist, das Licht zu schauen. Dazu bedarf es unermesslichen Umfangs und unauslotbarer Tiefe. Man hat mir „Vergottung der Seele“ vorgeworfen. Nicht ich – Gott selbst hat sie vergottet.“
Beim Thema Spiritualität der Ostkirchen darf wenigstens ein kurzer Hinweise auf die Ikonenverehrung nicht fehlen, denn sie macht einen wesentlichen Teil der orthodoxen Frömmigkeit aus. Im Alten Testament war die Darstellung Gottes verboten. Der Herr gebot Mose, sich kein Abbild zu schaffen, d. h. kein Götzenbild, und es nicht wie Gott anzubeten. In jener Zeit hatte noch niemand Gott gesehen, denn der Herr Jesus Christus war noch nicht in die Welt gekommen.
Deshalb wäre jede bildliche Darstellung als Gotteslästerung empfunden worden. Erst nach der Menschwerdung des Herrn, das heißt nachdem der Erlöser einen menschlichen Leib angenommen hatte, wurde eine solche Darstellung möglich. Aber selbst in der jungen Kirche war es ein langer Weg, bis das Verständnis für das Abbilden von Jesus, seiner Mutter Maria und der Heiligen als erlaubt und wünschenswert erkannt wurde. Von Anfang an aber wurde streng darauf geachtet zu unterscheiden zwischen dem mittels Farbe auf Holz gemalten Bild und dem Urbild. Die Ikone als Menschenwerk ist nur Holz, Farbe, Silber, Gold usw. Das auf ihr dargestellte Abbild einer Person dagegen ist Christus selbst. Die Verehrung einer Ikone mit dem Bild eines Heiligen oder die Anbetung einer Christusikone gibt es ¬– streng genommen – nicht. Eigentlich ist die Bezeichnung Ikonenverehrung nicht der richtige Begriff. Nicht die Ikone mit dem Abbild wird verehrt, sondern das Urbild. Auf einer Ikone sieht der Betrachter zunächst nur Farben und Formen, aber derart, dass sie etwas von der dargestellten Person ahnen lassen. Wenn nun eine Kerze angezündet oder die Ikone mit Küssen verehrt oder mit Weihrauch beräuchert wird, dann gelten all diese Ehrenbezeugungen dem Urbild der dargestellten Person im Himmel und nicht dem farbigen Abbild.
Eine Kirche im Bereich des byzantinischen Ritus ist ohne Ikonen, vor allem ohne die Bilderwand (Ikonostase), die den Altarraum vom Kirchenschiff trennt, nur schwer denkbar. Die Ikonen machen einen Kirchenraum erst zu einem Ort der intensiven Gottesbegegnung, jedenfalls mehr als es die nüchternen, manchmal an Fabrikhallen erinnernden modernen Kirchen des Westens vermögen. Karl Rahner schrieb dazu Folgendes: „Immer wieder brach ein Bilderstreit in der Kirche auf, und er ist auch heute und auch innerhalb der katholischen Kirche nicht zu Ende, wenn wir an die bildfeindliche Gestalt unserer modernen Kirchen denken oder an das Unverständnis für Gnadenbilder trotz eines wachsenden Lebendigwerdens der Ostkirchen und ihrer Theologie bei uns. Sollte sich heute das Paradoxon ereignen, dass auch die katholische Kirche sich fast zur bloßen Wortkirche (gemeint ist die protestantische) entwickelt, gerade in der Epoche, in der es so aussieht, als ob die profane Welt von einer Welt des Buches zu einer Welt der Illustrierten, des Films und des Fernsehens wird?“ Der Reichtum, den die ostkirchliche Spiritualität uns bietet, könnte diese Gefahr verhindern.
Fußnoten:
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Unter Troparion versteht man einen kurzen, meist einstrophigen Gesang der byzantinischen Liturgie. ↩︎
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Vgl. dazu Kallistos Ware: Der Aufstieg zu Gott. Glaube und geistliches Leben nach ostkirchlicher Überlieferung. Verlag Fluhegg, 1998, S. 55. ↩︎
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Vgl. hierzu auch Alfons Brüning: Von „Heiligen Orten“ und „Heimatlosigkeit auf Zeit“. In: OST-WEST. Europäische Perspektiven 9 (2008), H. 1, S. 3-12, bes. S. 5 f. (der gedruckten Ausgabe). ↩︎