OWEP 2/2013
Schwerpunkt:
Hafenstädte in Mittel- und Osteuropa
Editorial
Hafenstädte haben etwas Geheimnisvolles an sich. Sie sind Orte pulsierenden, aber auch unübersichtlichen Lebens. Sie sind seit Urzeiten auch mythisch besetzt. Orte der Heimkehr sind sie und Orte der Ausfahrt. Der Heimkehr in die Geborgenheit und relative Sicherheit. Der Ausfahrt ins Ausgesetzte, einer erschreckenden und faszinierenden Unsicherheit. Hafenstädte sind nicht nur Grenzorte zwischen Land und Meer. Sie sind auch Städte, in denen sich zwei Elemente mischen: Erde und Wasser. Aber sie waren und sind und werden auch sein: Schmelztiegel der Völker und Kulturen. Hafenstädte sind Orte der Sehnsucht. Eben, noch einmal: nach Heimkehr und Ausfahrt.
Das klingt geradezu poetisch, wenn man die heutige Wirklichkeit der großen Hafenstädte in Mittel- und Osteuropa in den Blick und unter die Lupe nimmt. Da tauchen Namen auf, die Erinnerungen wecken: an Armut und Reichtum gleichermaßen, auch an den Willen zur Macht und an erfahrene Ohnmacht, an Krieg und Frieden, an Ordnungswillen und Freiheitsdrang – bis zum heutigen Tag. Und sicher auch bis in alle vorstellbare Zukunft: Riga, Danzig, Split, Triest, Odessa, Suchumi, Wladiwostok, Sankt Petersburg, Archangelsk. Für viele sind damit auch persönliche Erfahrungen verbunden.
Beides nehmen wir in den Blick in dieser OWEP-Ausgabe: die Stimmung in diesen Städten und die wirtschaftliche, soziale und geostrategische Lage. So entstehen vielschichtige Bilder dieser Städte. Sie befreien von Klischees, die es auch gibt. Es sind, bei allen mitgeteilten Fakten und Informationen, offene Bilder.
In dieser Ausgabe befindet sich, als thematischer „Ausreißer“ sozusagen, auch noch ein Porträt über Neofit, den neuen Patriarchen der Bulgarischen Orthodoxen Kirche. Das Land, die Kirche dieses Landes sind mit mancherlei Vorurteilen belastet. Wir wissen, wenn wir ehrlich und nicht gerade Spezialistinnen und Spezialisten sind, nicht viel darüber. Das Porträt ist ein kleines Guckloch in eine Welt, die früher hinter dem „Eisernen Vorhang“ lag und sich heute mehr als nur dem touristischen Zugang öffnen kann.
Die Redaktion
Kurzinfo
Auch wenn der Mensch des 21. Jahrhunderts weite Strecken mit dem Flugzeug zurücklegt, wird er doch von der Faszination eines Hafens, zumal einer Hafenstadt am Meer, kaum unberührt bleiben. Bis heute sind Hafenstädte Drehscheiben des internationalen Handels und Brennpunkte der Weltwirtschaft, werden aber immer stärker auch Bühnen des Kulturlebens und entwickeln sich damit oft wieder zu dem, was sie zu Beginn ihrer Geschichte gewesen sind: zu Orten nicht nur des Waren-, sondern auch des Gedankenaustauschs und der Begegnung zwischen Menschen verschiedener Länder und Völker.
Da sich OST-WEST. Europäische Perspektiven dem Austausch zwischen Menschen und Kulturen zum besseren gegenseitigen Verständnis verpflichtet fühlt, kann eine Ausgabe über Hafenstädte viele Aspekte dieses Ansatzes abdecken. Die Auswahl der vorgestellten Hafenstädte könnte selbstverständlich auch anders erfolgt sein; einziges Kriterium ist die geografische Lage. Dennoch stehen die Beispiele stellvertretend für andere und führen die Leser in oft kaum oder gar nicht bekannte Räume. Zur Orientierung ist den Beiträgen eine Skizze vorangestellt, die die Lage der vorgestellten Hafenstädte zeigt: Drei liegen an der Ostsee, zwei an der Adria, zwei am Schwarzen Meer, eine am Stillen Ozean, eine am Weißen Meer. Weiterhin informieren Textkästen mit Kurzinformationen über die historischen und wirtschaftlichen Eckdaten der jeweiligen Städte. Außerdem enthält jeder Beitrag eine Abbildung.
Wie oben bereits angedeutet, lassen sich „Hafen“ und „Hafenstadt“ nicht exakt voneinander trennen. Im Regelfall bildete sich eine Siedlung zusammen mit dem Hafen, es gibt aber auch Fälle von planmäßiger Gründung eines Hafens, in dessen Nachbarschaft nach und nach eine Stadt heranwuchs, diese stets in Beziehung zum Hafen. Die Einführung in das Heft, die der polnische Historiker Prof. Dr. Jerzy Kochanowski, Universität Warschau, verfasst hat, skizziert die allgemeinen Merkmale einer Hafenstadt, zu der auch die besondere Mentalität ihrer Bewohner und eine ganz spezifische, sich in den meisten Hafenstädten wiederholende bauliche Grundstruktur zählen. Ergänzend dazu zieht der Autor einen historische Linie von der Antike bis zur modernen „HafenCity“ im 21. Jahrhundert.
Mit Danzig, gelegen an der Mündung der Weichsel in die Ostsee, wird eine Hafenstadt vorgestellt, die stellvertretend für das Problemfeld „zwischen den Völkern“ stehen kann. Der am Deutschen Polen-Institut in Darmstadt wirkende Historiker Dr. Peter Oliver Loew beschreibt die historische Entwicklung der heutigen größten polnischen Hafenstadt mit ihren Höhen und Tiefen, die auch ein Beispiel dafür ist, wie sich Stadt und Hafen räumlich voneinander trennen können. Einen völlig anderen Weg beschreitet Dr. Magdalene Huelmann, Akademische Oberrätin am Institut für Interdisziplinäre Baltische Studien der Universität Münster, in ihrem Essay über die baltische Metropole Riga. Sie lässt den lettischen Dichter Aleksandrs Čaks zu Wort kommen, der mit seinen Versen den Licht- und Schattenseiten des Hafenviertels von Riga und dessen verschlungenen Winkeln ein Denkmal gesetzt hat. Der Historiker meldet sich wieder beim Beitrag über eine dritte Hafenstadt an der Ostsee zu Wort, Sankt Petersburg. Geschichte und Geschicke dieser Stadt, die ihre Entstehung dem eisernen Willen Zar Peters I. zu verdanken hat, faszinieren bis heute Touristen aus aller Welt. Prof. Dr. Jan Kusber, Professor für Osteuropäische Geschichte an der Universität Mainz, stellt das „Venedig des Nordens“ vor.
Nun wendet sich die Blickrichtung nach Süden, an die Ostküste der Adria. Im Mittelpunkt steht zunächst eine Stadt, die „nicht Ost“ ist und „nicht West“: Triest, heute gelegen im äußersten Nordostwinkel Italiens, einst Haupthafen der Habsburgermonarchie. Allein diese beiden Hinweise, mit denen der Beitrag des an der Universität Koper in Slowenien tätigen Historikers Prof. Dr. Borut Klabjan ansetzt, weisen auf die verwickelte Geschichte der Stadt hin, die nach langem Niedergang wieder an die alte Größe anzuknüpfen versucht. Gewisse Parallelen zeigen sich damit zu Split in Kroatien, das von dem an der dortigen Universität tätigen Historiker Prof. Dr. Aleksander Jakir vorgestellt wird. Die seit der Antike besiedelte Stadt ist zwar ein Touristenmagnet und bedeutender Hafen, leidet jedoch bis heute unter den Folgen der Kriege der neunziger Jahre, in deren Verlauf Jugoslawien zerfiel.
Zwei Hafenstädte am Schwarzen Meer, die unterschiedlicher kaum sein könnten, werden danach kurz vorgestellt. Galyna Spodarets, z. Zt. Doktorandin an der Universität Regensburg, hat über ihre Heimatstadt Odessa geschrieben, die erst Ende des 18. Jahrhunderts gegründet wurde und bis heute zu den bedeutendsten Häfen am Schwarzen Meer zählt. Zeitweilig war Odessa zweitgrößter Hafen Russlands, musste schwere Einbußen durch Krieg und Revolution hinnehmen, kann aber heute wieder recht optimistisch in die Zukunft schauen. Ganz anders sieht es mit der Hafenstadt Suchumi aus, der Hauptstadt der international nur von wenigen Staaten anerkannten Republik Abchasien. Der in Tiflis tätige Historiker Prof. Dr. Malkhaz Toria zeichnet die Geschichte seiner Heimatstadt nach, die bis ins 6. Jahrhindert v. Chr. zurückreicht. In sowjetischer Zeit war Suchumi ein bedeutender Kurort und bedeutender Hafen, der dann jedoch im georgisch-abchasischen Krieg weitgehend zerstört wurde und heute wegen des ungeklärten Status von Stadt und Region funktionslos geworden ist.
Die beiden letzten Beiträge sind Hafenstädten gewidmet, die lange Zeit von Mitteleuropa aus nur sehr schwer zu erreichen oder für Ausländer völlig verschlossen waren. Letzteres galt besonders für Wladiwostok, einem „europäischen Hafen am Japanischen Meer“, dessen Entwicklung im Mittelpunkt des Beitrags von Dr. Alexander Kaplunovskiy, Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Mainz, steht. Der Autor markiert die wesentlichen Eckpunkte und wirft auch einen Blick auf die Lage der Stadt im 21. Jahrhundert, die sich zunehmend ihrer Rolle in der Nachbarschaft von China, Japan und Korea bewusst wird. Mit Archangelsk am Weißen Meer, gelegen im Norden des europäischen Teils Russlands, gelangen die Leser in eine Hafenstadt, die bereits im 16. Jahrhundert gegründet wurde, später ihren Rang als Tor Russlands zum Westen an Sankt Petersburg abtreten musste und in den letzten Jahrzehnten wieder an Bedeutung gewinnt. Die Osteuropa-Historikerin Julia Röttjer M. A., die mehrere Jahre ein deutsch-russisches Netzwerkprojekt in Archangelsk geleitet hat, führt durch die wechselvolle Geschichte dieser Stadt und ihres Hafens.
Außerhalb des Schwerpunkts enthält das aktuelle Heft ein Porträt des am 24. Februar 2013 gewählten neuen Patriarchen der Bulgarischen Orthodoxen Kirche, Neofit. Verfasst hat es der bulgarische und deutsche Jurist und Kirchenrat Mag. Iur. Hristo P. Berov, LL.M. (Potsdam), der als Laie an der Wahl teilgenommen hat.
Einige Literaturhinweise runden das Heft ab.
Ein Hinweis auf das nächste Heft: Im August 2013 wird Heft 3 erscheinen, das dem Schwerpunkt „Kroatien“ gewidmet sein wird; Hintergrund für die Wahl dieses Länderschwerpunkts ist der Beitritt Kroatiens zur Europäischen Union am 1. Juli 2013. Das Heft wird neben Beiträgen zur Geschichte, politischen und wirtschaftlichen Situation u. a. die Rolle der katholischen Kirche und der kleineren Religionsgemeinschaften für Kirche und Gesellschaft vorstellen. Vorgesehen sind außerdem einige Textkästen mit Kurzinformationen, z. B. zur Flagge Kroatiens und zur Republik Dubrovnik.
Dr. Christof Dahm