OWEP 1/2017
Schwerpunkt:
Berge in Mittel- und Osteuropa
Editorial
Wege, Straßen, Flüsse und Berge sind nicht einfach nur geografische Begriffe. Das auch, ja. Aber sie sind auch aufgeladen mit Gefühlen, mit dem der Heimat zum Beispiel, und sie sind geschichtsträchtige Orte, an denen sich ganze Nationen zuweilen wiederfinden, sind Symbole ihrer Identität.
Im vorliegenden Heft nehmen wir dieses Mal die Berge in den Blick, schauen auf das, was oben ist. Berge waren immer, im wörtlichen und im übertragenen Sinn, herausragend. Sie vermitteln nicht selten ein Gefühl der Erhabenheit, haben etwas Majestätisches an sich. Sie müssen aber nicht unbedingt besonders hoch sein.
Der Weiße Berg in Prag, der Helle Berg mit der Schwarzen Madonna in Tschenstochau, der Berg der Kreuze in Litauen sind keine hohen oder gar höchste Berge. Was ihnen an quantitativer Höhe „fehlt“, das machen sie durch die Qualität ihrer symbolischen Aufgeladenheit wett, durch ihren herausragenden Platz in der Geschichte der jeweiligen Nation. Sie sind Gegenstände der religiösen und nationalen Verehrung, sind in gewisser Weise heilige Berge.
Aber auch hohe Berge oder Gebirgszüge haben ihre Qualitäten. Sie sind Orte, die den Stoff für Mythen und Nationalepen hergegeben haben. Das gilt für den Triglav in Slowenien, für die Karpaten in der Geschichte Rumäniens, für den Velebit in Kroatien, den biblischen Ararat, den Ural, der eine Grenze mitten in Russlands unendlichen Weiten ist, und auch für den höchsten der Berge dieses Heftes: den Pik Lenin.
Berge sind in der Geschichte der Völker und Nationen schon in frühester Zeit Orte, an den sich Himmel und Erde berühren, seien sie hoch oder weniger hoch. „Höhe“ ist ein relativer Begriff. Aber in jedem Fall muss man nach oben schauen. Und der Blick in die Höhe, in die Höhen ist gleichzeitig auch wie die Beiträge dieses Heftes zeigen, ein Blick in die Tiefe. In die Tiefe der Zeit, in die Tiefe der Geschichte und in die Tiefen unserer Seele.
Die Redaktion
Kurzinfo
Schon immer haben Berge auf den Menschen eine besondere Faszination ausgeübt: Viele gelten bis heute als Sitz von Gottheiten oder in einem weiteren Sinne von Naturgewalten und wurden damit zu Orten der Verehrung oder aber auch der Furcht, weshalb das Besteigen von hohen Gipfeln vielfach tabuisiert war und erst in neuerer Zeit erfolgte. Manchen Bergen kommt bis heute unabhängig von ihrer tatsächlichen Höhe eine weitergehende Funktion als symbolischer Ort zu, sei es als Wegmarke, Grenzpunkt oder Erinnerungsstätte für bedeutende historische Ereignisse. Die Redaktion von OST-WEST. Europäische Perspektiven stellt in ihrem aktuellem Heft Berge vor, die sich den verschiedenen Kategorien zuordnen lassen. Das Heft setzt damit die Reihe kulturhistorischer Schwerpunkte fort, die u. a. Flüsse, Wege und Straßen und Eisenbahnen behandelt haben.
Vorangestellt ist dem Heft eine Skizze, die schematisch die Lage der im Heft beschriebenen Berge in Europa bzw. Asien zeigt – das Heft sprengt also ein wenig den üblichen geografischen Rahmen, was aber dem Inhalt sicher keinen Abbruch tut. Im Eröffnungsbeitrag vertieft sich Prof. Dr. Michael Albus, verantwortlicher Redakteur der Zeitschrift, in die symbolische und spirituelle Dimension von Bergen für den Menschen. Auf dem Weg zu den Gipfeln kommt der Mensch zu sich selbst, vielleicht auch zum ganz Anderen und damit letztlich zu Gott.
Neun Berge oder Gebirgszüge von ganz verschiedenen Dimensionen folgen in einer Reihenfolge, bei der der von deutscher Warte am weitetesten entfernte an erster Stelle, der nächst gelegene an letzter Stelle steht. Prof. Dr. Rudolf A. Mark, Lehrstuhlvertreter für Geschichte Mittel- und Osteuropas an der Helmut-Schmidt-Universität der Bundeswehr in Hamburg, richtet mit dem Pik Lenin den Blick nach Zentralasien auf das Gebirgsmassiv des Pamir. Die Geschichte seiner Erstbesteigung und Namensgebung ist zugleich ein Teil der Geschichte der Sowjetunion von Stalin über Chruschtschow bis zum Zerfall und zur Bildung der GUS. Ähnlich verbunden mit der Geschichte der Sowjetunion – oder genauer gesagt: der Sowjetrepublik Armenien – ist der legendenumwobene Ararat, gelegen in der Osttürkei unmittelbar an der Grenze zur heutigen unabhängigen Republik Armenien. Der aus Armenien stammende, in Berlin lebende Kirchenhistoriker Dr. Harutyun G. Harutyunyan zeichnet die Rolle des „Vaterbergs“ Ararat als Sehnsuchtsort für die Armenier in aller Welt nach. Auch der dritte Beitrag blickt weit nach Osten, an die Grenze zwischen Europa und Asien. Der waldreiche Ural wurde per Konvention als Scheidelinie festgelegt, ohne wirklich zu trennen; Dr. Regina Elsner, Mitarbeiterin an einem Forschungsprojekt zur Rolle der Orthodoxie in Russland an der Universität Münster, beschreibt die geografische Situation und geht der Geschichte der Landschaft am Ural nach.
Ein Berg im strengen Sinne des Wortes ist es nicht, mit dem sich Markus Nowak, Journalist und Historiker in Berlin, befasst, eher ein Hügel. Dem Berg der Kreuze kommt aber eine große Bedeutung für die Religiosität der Litauer zu, ebenso wie für ihr Unabhängigkeitsstreben. Geschichte und Mythologie, Personen und Legenden spielen ineinander, wenn im folgenden Beitrag der Karpatenbogen in Rumänien vorgestellt wird. Dr. Ciprian Ghisa, stellvertretender Direktor des Transylvania College in Cluj-Napoca, zeichnet die Geschichte dieser Gebirgslandschaft von der Antike bis zur Gegenwart nach. Nicht weniger eindrucksvoll sind die Landschaftsbilder, die der Velebit, das „Rückgrat Kroatiens“, bietet. Der kroatische Schriftsteller und Essayist Edo Popović gibt einen Überblick zur Flora und Fauna des markanten Gebirges und lässt die Leserinnen und Leser auch an der Literatur über den Velebit teilhaben.
Eine große Rolle für das Selbstbewusstsein eines relativ kleinen Landes spielt der Triglav, einer der markantesten Alpengipfel und höchster Berg Sloweniens. Prof. Dr. Marija Wakounig, Professorin für Osteuropäische Geschichte an der Universität Wien, erläutert die Bemühungen zur Erstbesteigung des „Dreikopfs“ und zeichnet nach, wie der Alpinismus in Slowenien Teil des Nationalitätenkampfes im 19. Jahrhundert geworden ist. Das Thema „nationales Symbol“ gilt auch für die beiden letzten Texte des Heftes, jedoch in ganz unterschiedlicher Ausfaltung. Markus Nowak ist zudem Autor eines Beitrags über den Hellen Berg im polnischen Tschenstochau, der Verehrungsstätte der „Schwarzen Madonna“, die seit Jahrhunderten Millionen von Pilgern in ihren Bann zieht. Ganz anders steht es um das Kloster „Maria vom Siege“ auf dem Weißen Berg bei Prag, das an eine der folgenreichsten Schlachten des Dreißigjährigen Kriegs erinnert. Heute leben dort Benediktinerinnen der Gemeinschaft Venio, zu der auch Schwester Anežka Najmanová OSB zählt, die in ihrer Skizze den Bogen von der Geschichte des 17. Jahrhunderts bis zur Begegnungsstätte der Gegenwart schlägt und damit die kleine Auswahl von „Bergen“ beschließt.
Im Mai 2017 wird als zweites Heft in diesem Jahr ein Länderheft mit Schwerpunkt „Slowenien“ erscheinen. Themen aus Politik, Kirche, Kultur, Geschichte und Wirtschaft werden in lockerer Abfolge dargestellt, außerdem wird das Heft Kurzinformationen u. a. zu den Stichworten „Gorenje“, „Gottschee“ und „Lipizza“ enthalten.
Dr. Christof Dahm
Inhaltsverzeichnis
Dem Himmel nahe. Berge sind Ursymbole der Menschheit
Michael Albus
Berge sind für viele Menschen mehr als nur besondere Landmarken – sie gehören zu den Ursymbolen der Menschheit. In seiner Einführung „Dem Himmel nahe“ geht der Autor der „Spur der Berge“ auf der Suche des Menschen nach Sinn im Leben nach.
Many people consider mountains to be more than only landmarks – they are counted among the primal symbols of the human race. With his introduction „Close to Heaven“ the author follows up the „mountains’ trace“ on human’s search for the meaning of life.
Von hohen und höchsten Gipfeln: Der Pik Lenin
Rudolf A. Mark
Nach der russischen Annexion Zentralasiens dienten die höchsten Berge des Pamirs dem Ruhm der Eroberer. Der Pik Lenin gehörte zu den vier Siebentausendern dieses Bergmassivs, die als Fels-Monumente den Sieg der Sowjetunion und ihrer Führer auf dem „Dach der Welt“ manifestieren sollten. Als die Geschichte über sie und die Sowjetunion hinweg gegangen war, kündeten die schneebedeckten Gipfel von neuen Namen und neuen politischen Aufbrüchen.
After the Russian annexation of Central Asia, the highest elevations of the Pamir Mountains served the glory of the conquerors. The Pik Lenin is counted among the four seven-thousanders of this massif, which should manifest the victory of the Soviet Union and their leaders as rock-monuments on the „roof of the world“. As history skipped over them and the Soviet Union, the snow-covered summits heralded anew names and new political departures.
Ararat – der verlassene Vaterberg am Rande Europas
Harutyun G. Harutyunyan
Historisch gesehen liegt der Ararat im armenischen Siedlungsgebiet, heute jedoch ist er der höchste Berg der Türkei – von Armenien aus sichtbar, aber nahezu unzugänglich. In folgendem Essay zeichnet der aus Armenien stammende Autor die symbolische Bedeutung des Berges nach. Die Geschichte von der Landung der Arche Noah umfasst nur einen kleinen Teil dessen, was der „Vaterberg“ für die Armenier in aller Welt ausmacht.
In historical terms, the Ararat is situated within the Armenian settlement zone, today though it is Turkey’s highest mountain – visible from Armenia, but almost inaccessible. In the following essay, the Armenian-born author portrays the symbolic meaning of this mountain. The narrative of the landing of Noah’s ark encompasses only a small proportion of how Armenians worldwide perceive the „father mountain“.
Eine Grenze mitten in Russlands unendlichen Weiten: Der Ural
Regina Elsner
Eher unspektakulär erhebt sich das Uralgebirge über fast 2.500 km zwischen Europa und Asien. Im Laufe der Geschichte war es, wie der Beitrag nachzeichnet, Siedlungsgebiet, Verbannungsraum und schließlich Industrieregion. Das Eingreifen des Menschen in eine lange Zeit unberührte Natur hat die Landschaft nachhaltig verändert.
The Ural Mountains rise up rather unspectacularly along almost 2.500 km between Europe and Asia. The article traces its function throughout history as an area of settlement, banishment and, eventually, as an industrial region. The human intervention has sustainably changed this landscape, which had been untouched nature for a long time.
Vom Kirchenkampf zur Kommerzialisierung. Der Berg der Kreuze als litauischer Wallfahrts- und Widerstandsort
Markus Nowak
Etwa bei Kilometer 145 auf der Fernstraße E 77 zwischen dem ehemaligen Tilsit, heute Sowjetsk, und der lettischen Hauptstadt Riga steht hinter Šiauliai ein kleines Abzweigschild. „Kryžiu kalnas“ weist unscheinbar auf einen Ort hin, der für Litauens Geschichte zum Symbol für Volksfrömmigkeit, Widerstand und Freiheitsdrang wurde. Der Berg der Kreuze mit seinen hunderttausenden Holzkreuzen wurde immer wieder von der Sowjetmacht zerstört, heute ist er eines der beliebtesten Touristenziele in der Baltenrepublik.
Right after Šiauliai, approximately at kilometer 145 on the highway E 77 between the former Tilsit, nowadays Sowjetsk, and the Latvian capital Riga, there is a small junction sign. „Kryžiu kalnas“ plainly indicates a site which, for Latvia’s history, had become a symbol for popular devotion, resistance and desire for freedom. With its hundreds of thousands of wooden crosses, the Hill of Crosses had repeatedly been destroyed by the Soviet power, today it is one of the most admired tourist destinations in the Baltic republic.
Die Karpaten in Geschichte und Mythologie der Rumänen
Ciprian Ghisa
Die Karpaten sind einer der längsten Gebirgszüge Europas, wobei sich der größte Teil durch Rumänien zieht. Der folgende Beitrag bietet einen geografischen Überblick und zeichnet die Bedeutung der verschiedenen Gebirgszüge für die historische und geistige Entwicklung der Region von der Antike bis in die Gegenwart nach.
The Carpathians are one of the longest mountain ranges in Europe, whereby the major part traverses Romania. The following article offers a geographic overview and portrays the importance of the different mountain ranges for the historical and spiritual development of the region from ancient times to the present day.
Der Velebit – das Rückgrat Kroatiens
Edo Popović
Ausführlich schildert der Autor in seinem Essay die geografische und geologische Beschaffenheit des Velebit-Gebirges in Kroatien, das in der Geschichte und Kultur des Landes eine bedeutende Rolle spielt. Viele Schriftsteller haben die Berglandschaft, die über eine einzigartige Flora und Fauna verfügt, in den Mittelpunkt ihrer Werke gestellt.
Within his essay, the author gives a detailed overview of the geographic and geologic quality of the Velebit mountains in Croatia, which play an important role within the history and culture of the country. Many authors put this alpine landscape and its flora and fauna at the heart of their writings.
Oj Triglav moj dom, kako si krasan! (Oh Triglav, meine Heimat, wie schön du bist!)
Marija Wakounig
Der Triglav, höchster Berg Sloweniens und einer der markantesten Alpengipfel, spielt eine große Rolle sowohl für die Geschichte des Alpinismus als auch für die Nationswerdung der Slowenen. Der Beitrag zeichnet die Phasen dieser Entwicklung nach, die dazu geführt hat, dass der Berg Münzen und Wappen Sloweniens ziert, aber auch in profanen Bereichen zur Identifikation mit dem Land dient.
Being Slovenia‘s highest mountain and one of the most distinctive Alpine peaks, the Mount Triglav is very important both for the history of alpinism and for the nation-building of the Slovenes. The article portrays the phases of this development, which is the reason why the mountain adorns Slovenian coins and emblems, but also serves for the identification with the country in more profane areas.
Der Helle Berg mit der Schwarzen Madonna. Tschenstochau als Gedächtnisort der polnischen Geschichte
Markus Nowak
Der 106 Meter hohe Glockenturm des Klosters Jasna Góra („Heller Berg“) in Tschenstochau ist dutzende Kilometer weit zu sehen. Seit Ende des 14. Jahrhundert bewohnen Paulinerpatres die Anlage, in deren Zentrum das wunderbringende Bild der Schwarzen Madonna steht. Jasna Góra gilt mit vier Millionen Pilgern jährlich nicht nur als einer der bedeutendsten Wallfahrtsorte der Welt und als das religiöse Zentrum des Landes, sondern hat insbesondere auch eine Dimension als patriotisch-freiheitlicher Erinnerungsort.
The campanile of the monastery Jasna Góra („Bright Hill“) in Tschenstochau measures 106 meters of height and is visible dozens of kilometers from afar. Since the end of the14th century, the complex has been inhabited by Pauline Fathers, with the miraculous picture of the Black Madonna in the center of it. Counting four million pilgrims per year, Jasna Góra is not only one of the most important places of pilgrimage but also has in particular a dimension as a patriotic-liberal memorial site.
Der Weiße Berg in Prag – vom Schlachtfeld zur Begegnungsstätte
Anežka Najmanová OSB
Westlich der Prager Burg liegt der Weiße Berg, auf dem sich im Jahr 1620 eine Schlacht zwischen verschiedenen Völkern und Kirchen abspielte, die die tschechische Geschichte stark geprägt hat. In dieser Schlacht hat laut einer Legende eine „höhere Macht“ eingegriffen. Im Jahr 2007 gründeten Benediktinerinnen aus Tschechien und Deutschland dort ein Kloster. Wie gelingt es dieser deutsch-tschechischen Kommunität, die belastete Geschichte des Ortes zu verarbeiten?
Westwards from the Prague Castle lies the White Hill, site for a battle between different peoples and churches back in 1620. According to legend, a „higher power“ had been engaged in this combat that strongly shaped the Czech history. In 2007, Benedictines from the Czech Republic and Germany founded a monastery on this very location. How does this German-Czech community cope with the burdened history of this place?
Summary in English
People have always been extremely fascinated by mountains: Many of them are still believed to be homes for deities or, in another sense, origins of natural forces. Therefore, they had become places of worship, but also of fear, which is why it was, unlike today, frequently tabooed to climb on top of high peaks. Based on the original topographical meaning and regardless of their actual height, some mountains bear a further function as sites of symbolic importance, either as milestone, limiting point or memorial site for important historical events. The current issue of OST-WEST. Europäische Perspektiven contains an introduction to the culture-historical and symbolic role of mountains and also nine articles that present distinctive mountains and mountain ranges, including the Mount Triglav in the Slovenian Alps and the Ural Mountains in Russia, but also the Hill of Crosses in Lithuania, the „Bright Hill“ in Poland and the White Hill in the Czechia.