Europäische Wallfahrt
Seitdem Archäologen vergangene menschliche Kulturen beobachten, finden sie Hinweise auf heilige Orte, an denen Menschen Glück und Heil für ihr Leben suchten. Bis zum heutigen Tage kennen wir heilige Höhlen, Steine, Quellen, Bäume, Haine und Tempel, wohin unsere Vorfahren pilgerten, um göttliche Gegenwart und Hilfe zu erfahren. Wer je den 6000 Jahre alten Wallfahrtstempel von Ġgantija auf der Insel Gozo sah, ist ergriffen von diesen Traditionen. Bis zum heutigen Tage finden wir in allen Weltreligionen heilige Orte und uralte Wallfahrtswege.
Wann aber beginnt die Wallfahrt Europas? Der Name Europa entstammt der griechischen Sagenwelt. Die Jungfrau Europa war die Tochter des phönizischen Königs Agenor von Tyros. Aphrodite, die Göttin der Liebe, eröffnete ihr, dass sie einem fremden Kontinent ihren Namen geben würde. Der in sie verliebte Zeus entführte sie in Stiergestalt nach Kreta und sie wurde die Geliebte des Zeus. Das griechisch-römische Imperium bekam ihren Namen: Europa. Erst die Begegnung der romanischen mit den germanischen und slawischen Völkern brachte ein umfangreicheres Verständnis von Europa als ein über Rom hinausreichendes Gebiet.
Die Einführung des Christentums führte die Völker noch stärker zusammen. Der einheitliche Glaube überwand häufig nationale Grenzen. So waren schon in den ersten Jahrhunderten Christen unterwegs zu Wallfahrtsorten in verschiedenen Ländern. Sie wollten sich von Jesus Christus bewegen lassen. Wallfahrer verließen ihre Behausung mit der festen Absicht, nach Ende der Wallfahrt als neue Menschen wieder dorthin zurückzukehren. Auf ihrem Weg erfuhren sie zahlreiche Begegnungen mit Menschen, Landschaften und mit sich selbst. Sie suchten die eigentlichen Wurzeln ihres Glaubens, die sie vor allem im Lande Jesu und an den Gräbern der Märtyrer zu finden hofften. Sicherlich war die christliche Wallfahrt vom jüdischen Gesetz und Brauchtum her beeinflusst, doch ihr Vorbild war der Lebensweg Christi. Im Jahre 320 begann in Jerusalem mit der Kreuzauffindung durch Helena und dem Bau der Auferstehungskirche durch Konstantin die Wallfahrtstradition im heiligen Land. In Jerusalem, Bethlehem und in Nazareth erwarteten die Pilger die göttliche Hilfe in besonderer Weise, da sie ja durch Jesus besonders geheiligt waren. Als der Weg zum heiligsten Wallfahrtsort der Christenheit durch die islamische Eroberung versperrt wurde, empfand man das als eine unerträgliche Schmach. So entschied sich 1095 die in Clermont versammelte Christenheit, den Weg nach Jerusalem wieder zu frei zu machen. Man stellte ein Ritterheer auf, das mit der Eroberung Jerusalems das Ziel seines Kreuzzugs erreichte. Hier in der heiligen Stadt empfanden sich die aus vielen Ländern stammenden Ritter in gewisser Weise zum ersten Mal als Europäer, da sie sich durch eine gemeinsame Aufgabe verbunden wussten. Sie bauten Hospize für die Wallfahrer und sorgten für mehr Sicherheit auf den Wallfahrtswegen.
Bis zum heutigen Tag sind Galiläa und Judäa die wichtigsten Wallfahrtsziele für Christen geblieben. Doch schon im 2. Jahrhundert verbreiteten sich auch Wallfahrten zu den Gräbern der Märtyrer, vor allem zu den Aposteln Petrus und Paulus in Rom. Hier trafen sich Pilger aus ganz Europa. Größte Bedeutung aber erhielt die Wallfahrt nach Santiago de Compostela – zum „Ende der Welt“. Der größte Teil Spaniens war von den Moslems erobert worden und kämpfte um seine Freiheit. Im Apostel Jakobus, dessen Grab man in Santiago verehrte, sahen die Spanier den wichtigsten Helfer für diesen Kampf. Zunächst war campus stellae (Sternenfeld) nur ein regionaler Wallfahrtsort, entwickelte sich aber nach und nach zu einem Heiligtum europäischer Bedeutung. Nach dem endgültigen Verlust Jerusalems wurde Santiago „das neue Jerusalem“ und 1478 der heiligen Stadt gleichgestellt. Bis zu 500.000 Pilger jährlich strömten nach Santiago. Der Gnadenort vermittelte das Bewusstsein, einer einheitlichen geistigen, religiösen und kulturellen Welt anzugehören. In beispielloser Weise schuf man Straßenverbindungen bis in die entferntesten Gebiete Europas. Bis zum heutigen Tage sind sie Grundmodelle europäischer Fernstraßen geblieben.
Im Frühmittelalter kamen Wallfahrten zu den Kathedralen der Bistümer und seit dem Hochmittelalter zu zahlreichen Marienheiligtümern auf, die man als übernationale Heiligtümer ansah. Viele von ihnen gehören auch heute noch zu den wichtigsten Wallfahrtsorten unseres Kontinents, z. B. Altötting, Einsiedeln, Loreto, Mariazell, Montserrat oder Tschenstochau. Bis zum 15. Jahrhundert dachte und handelte man vorwiegend europäisch, nicht nationalistisch. Auch die Wallfahrten hatten eher eine europäische als eine nationale Bedeutung. Der mittelalterliche Mensch hatte ein unerschütterliches Vertrauen zu Gott, aber auch zu seinen Heiligen. Jeder Pilger war nicht nur Träger des Heils, sondern auch Überträger der göttlichen Gnade in die Gesellschaft hinein. Wallfahrten waren nicht das Ergebnis eines bestehenden Europas, sondern ein Ferment seiner Entwicklung. „Europa ist auf der Pilgerschaft geboren, und das Christentum ist seine Muttersprache“ – treffender als mit diesen Worten, die Goethe zugeschrieben werden, lässt sich die Bedeutung der Wallfahrten für das Werden Europas kaum beschreiben.
Die Glaubensspaltung im 16. Jahrhundert brachte auch für das Pilgerwesen eine folgenreiche Veränderung. In den evangelisch gewordenen Staaten und seit der Aufklärung auch in den katholischen Ländern wurden die Wallfahrten massiv eingeschränkt oder sogar verboten. Natürlich waren auch weiterhin Pilger in europäischen Regionen unterwegs, aber die gesamteuropäische Dimension ging verloren.
Europäische Wallfahrt nach dem Zweiten Weltkrieg
Eine neue Sensibilität für ein gemeinsames Europa bildete sich im 20. Jahrhundert als Folge der Erfahrung zweier Weltkriege heraus. Auch in früheren Zeiten hatten Angriffe von außen den europäischen Gedanken gestärkt; man denke etwa an die Kämpfe um die Befreiung Spaniens von den Mauren und an die Abwehr der Türken auf dem Balkan. Heinz Gollwitzer schrieb 1972, dass der Gedanke an Europa in der Geschichte immer dann pointiert auftrat, wenn den Völkern Gefahr drohte; das Wort „Europa“ sei erst nach der Türkenbedrohung Allgemeinbegriff geworden. So zeigte sich auch nach dem Zweiten Weltkrieg, dass die Bemühungen um eine europäische Gemeinschaft umso drängender wurden, je bedrohlicher die politische Situation erschien. 1957 unterstrich Papst Pius XII. vor dem Europa-Kongress in Rom, wie notwendig der Weg zur europäischen Gemeinschaft sei. Im gleichen Jahr wurden die Römischen Verträge unterzeichnet.
Welche Rolle sollte dabei die Kirche spielen? 1971 entstand der Rat der europäischen Bischofskonferenzen (CCEE) mit dem Sekretariat in St. Gallen (Schweiz). Die Erklärung „Wort zu Europa“ (1977) war ein bedeutsamer Hinweis auf die Verantwortung der Kirche für Europa, für eine neue Kultur und Spiritualität unseres Kontinents. Der Primas von Polen, Kardinal Stefan Wyszyński, hob 1978 im Kölner Dom hervor: „Wir suchen nach einer Sprache des Evangeliums, mit welcher die Bischöfe Europas ihre Völker ansprechen können, um sie im Geist der Liebe, der Gerechtigkeit und des Friedens zu bewahren.“ 1980 publizierte der CCEE eine Deklaration über die Verantwortung eines jeden Christen bei der Neuevangelisierung Europas. Im Rahmen dieser Aufgabe sollte auch die Wallfahrt Europas mithelfen, die neue europäische Gemeinschaft an ihre christlichen Wurzeln zu erinnern. Seit Jahren schon hatte die Zahl der Wallfahrer an allen europäischen Wallfahrtsorten stark zugenommen. Vor allem junge Menschen suchten im Pilgern neue Inhalte und Formen. Während bisher Wallfahrten weitgehend von Heiligtümern her inspiriert gewesen waren, entdeckten zunehmend Diözesen, Verbände und andere Organisationen im gemeinsamen Unterwegssein neue pastorale Möglichkeiten. Viele Wallfahrtsträger integrierten den europäischen Gedanken in bestehende und neue Wallfahrtsformen und versuchten dabei, die Begegnung von Menschen verschiedener Länder möglich zu machen. Die Frage war nun, wie sich diese neue Entwicklung in eine europäische Wallfahrtsbewegung einbringen lasse. Der damalige Sekretär der Deutschen Bischofskonferenz, Dr. Josef Homeyer, regte eine intensive Diskussion darüber an. Im Verlauf der Gespräche entwickelte sich die Initiative „Europawallfahrt“. Bei den Überlegungen nach dem besten Weg ergaben sich folgende vier Grundprinzipien:
Miteinander-unterwegs-sein ist nicht nur Methode, sondern enthält auch ein Ziel: unterwegs mit Christus, mit Pilgern und mit Menschen einer Region.
Die Verantwortung für Europa bekommt eine entscheidende Bedeutung. Europäisch können Wallfahrten allein schon dadurch sein, dass Teilnehmer aus verschiedenen Ländern Europas zusammenkommen oder am Wallfahrtsort einander begegnen. Gebetsintentionen, Meditationen und Gespräche können die Pilger, aber auch die inhaltliche Ausrichtung einer Wallfahrt auf Europa hin orientieren. Auch die Hineinnahme von Landschaft und Kultur, der Heiligen einer Region oder die Begegnung mit der Kirche am Ort können eine Wallfahrt prägen. Wichtig ist dabei, dass die Gebiete nicht einfach durchfahren werden, sondern dass sich Menschen auf dem Weg begegnen.
Wallfahrten in Europa werden nicht von oben organisiert, sondern von den jeweiligen Ortskirchen und Kirchen am Ort – hüben wie drüben – vorbereitet und getragen. Die Kirche am Ort lädt zur Wallfahrt ein.
Der Stil der Wallfahrten soll sich durch Einfachheit auszeichnen: einfach in der Gestaltung der Zeit, in der Lebensform und im Umgang miteinander.
Entscheidend für die weitere Entwicklung dieser Grundgedanken war, die „Entsender“, das heißt z. B. die Diözesen und Verbände, für die Umsetzung dieser Ideen zu gewinnen. Erfreulicherweise war das Echo weitgehend positiv. 1982 wurden die ersten Europawallfahrten im Rahmen der entwickelten Grundgedanken durchgeführt. Dabei war das Wagnis, mit Menschen verschiedener Sprachen aus unterschiedlichen Regionen unterwegs zu sein, bedeutungsvoller als eine perfekte Organisation. Die spirituelle Vorbereitung der Pilger und der gastgebenden Gemeinden erwies sich als besonders wichtig, um sich als Christen Europas aufeinander einzulassen.
Um die Grundideen der Europawallfahrt zu verbreitern und zu vertiefen, gründete sich 1983 in Sankt Augustin die „Gesellschaft zur Förderung europäischer Wallfahrten und christlicher Zusammenarbeit e. V“. Diese sah ihre Aufgaben vor allem darin,
die Gemeinsamkeit und Verbundenheit von Christen in Europa zu stärken, z. B. durch Programme, Veranstaltungen und Begegnungen,
die religiöse, kulturelle und gesellschaftspolitische Entwicklung Europas mitzugestalten,
die europäischen Wallfahrten mit ihren besonderen Möglichkeiten für das Zusammenleben der Völker in einer übernationalen Gemeinschaft zu fördern,
alternative Formen zu den bekannten und bewährten Wallfahrten zu entwickeln,
Plattform für europäische Initiativen zu sein und
in Gesprächen und in der Begegnung den eigenen Standpunkt immer wieder zu hinterfragen und Antworten zu geben.
Schon sehr bald drängte sich die Frage auf, in welcher Weise solche Wallfahrten auch ökumenisch sein könnten; denn in vielen evangelischen Gemeinden zeigte sich eine neue Offenheit für Wallfahrten. 1981 kam eine Bitte aus Finnland, dort eine ökumenische Europawallfahrt durchzuführen. Erste Gespräche mit lutherischen, orthodoxen und katholischen Gesprächspartnern ergaben, dass man eine alte Wallfahrtstradition wieder aufnehmen wollte. Gedacht war an eine europäisch orientierte Wallfahrt zum Märtyrerbischof Henrik, der von Geburt her Engländer war und später Bischof von Uppsala in Schweden wurde. 1155 kam Henrik mit König Erik dem Heiligen nach Finnland und predigte hier das Evangelium. Bis heute gilt er als „Apostel Finnlands“ und ist zugleich Nationalheiliger des Landes. Zur Vorbereitung der gewünschten Wallfahrt bildete sich in Helsinki eine ökumenische Wallfahrtskommission, und schon 1983 konnte man zum ersten Mal den Pilgerweg gehen. Das ganze Land wurde durch die tägliche Berichterstattung in Rundfunk und Fernsehen am Wallfahrtsgeschehen beteiligt, das für das ökumenische Miteinander in Finnland neue Maßstäbe setzte.
Schwieriger gestalteten sich die Wallfahrtsvorbereitungen in den sozialistisch regierten Ländern. Bestimmend für alle Überlegungen und Absprachen waren die Kontakte mit den Bischöfen. Sie waren zwar alle offen für europäische Wallfahrten, doch entscheidend für sie war die Frage, wie sich eine solche Wallfahrt auf die jeweilige politische Situation ihres Landes auswirken würde:
Die Deutsche Demokratische Republik erlaubte zwar Wallfahrten, aber nur im engen katholischen Bereich. Kardinal Alfred Bengsch befürchtete daher, dass bei internationaler Gestaltung oder Beteiligung alle Wallfahrten in der DDR verboten werden könnten.
In Ungarn musste Bischof Cserháti als Sekretär der Ungarischen Bischofskonferenz nach jedem Gespräch über die Möglichkeit einer Europawallfahrt den staatlichen Kirchensekretär Miklos um sein Einverständnis bitten. Eine Wallfahrt im Lande – so hieß es – würde eine Revolution auslösen. Sekretär Miklos erlaubte schließlich eine Wallfahrt, die durch mehrere Länder führen und nur am Ende Ungarn berühren sollte. So kam es 1987 zur Wallfahrt „Maria am Wege“, die in Graz begann, Marienheiligtümer in Kroatien und Slowenien besuchte und schließlich am Wallfahrtsort Mariagyüd/Marjud in Ungarn endete.
In der Tschechoslowakei waren zwar Wallfahrten offiziell verboten, doch die Gläubigen strömten trotz aller Behinderungen in großer Zahl zu den Gnadenorten. So kamen in Levoča/Leutschau (Slowakei) Hunderttausende von Pilgern zusammen, vor allem Jugendliche, denen sich – oft unter großen Gefahren – viele ausländische Pilger anschlossen.
In Polen war es leichter. Die Bischöfe wünschten sogar, dass der Pilgerweg zum Heiligtum in Częstochowa/Tschenstochau ein europäisches Ereignis werde. So waren 1980 52.000 Pilger unterwegs, darunter Tausende von Ausländern aus Italien, Ungarn, der Tschechoslowakei, Frankreich, Großbritannien, Belgien, den Niederlanden, USA, Österreich, Spanien und aus beiden Teilen Deutschlands. Anlässlich der Jubiläumswallfahrt 1982 gab die polnische Post sogar vier Sondermarken und einen Sonderstempel „Europejskie Pielgrzymowanie“ heraus, der mit dem Kundschafteremblem der Europawallfahrt verbunden war. Doch eine solche Geste blieb auch in Polen eine Ausnahme.
Im gleichen Jahr lud Ivo Fürer, der damalige Sekretär des CCEE, europäische Pilgerverantwortliche zu einem ersten Austauschgespräch nach Einsiedeln in der Schweiz ein, das 1983 mit Vertretern aus Belgien, Deutschland, Frankreich, Italien und der Schweiz weitergeführt wurde. Wichtig erschien den Teilnehmern, den Gedanken der europäischen Wallfahrtsbewegung in die bestehenden Wallfahrts- und Pilgerorganisationen der verschiedenen Länder einzubringen. Entscheidend für sie war der unverzichtbare Auftrag der Kirche in Europa, die christliche Botschaft zu verkünden. Verbunden damit war die Hoffnung, dass sich Europa nicht auf eine Wirtschaftsgemeinschaft beschränke, sondern auch seine christlichen Wurzeln erkenne. Die Pilgerverantwortlichen wünschten, dass die Wallfahrtsträger den Auftrag der Evangelisation Europas bei der Gestaltung ihrer konkreten Programme und Angebote berücksichtigen möchten. Auch neue Wallfahrtsformen könnten beitragen, eine umfassendere Sicht und einen größeren Einblick in nationale und kulturelle Eigenarten zu vermitteln und so das Verständnis für ein christlich geprägtes Europa zu vertiefen.
1984 fand dann ein Treffen zwischen der französischen „Association Nationale des Directeurs Diocésains de Pèlerinage“ (ANDDP) und Verantwortlichen der Europawallfahrt statt. Der Präsident der ANDDP, Michel Guitton, stellte dabei als Ziel heraus, die Initiativen beider Länder auf eine gemeinsame Plattform zu stellen und weitere Länder einzuladen, sich diesem Vorhaben anzuschließen. Die ANDDP kündigte dabei an, die Europawallfahrt in Frankreich noch bekannter zu machen. Die Evangelisation Europas war auch das Thema des Bischofssymposions von 1985. Dort betonte Kardinal Godfried Danneels: „Innerhalb der Volksfrömmigkeit liegt auch schon ein altes Phänomen, das sich aber heute in unerwartetem Ausmaß zu erneuern scheint: die Wallfahrt, an denen immer mehr Leute teilnehmen, besonders die Jugendlichen.“ Ebenso nahm die Konferenz von Wallfahrtsleitern 1986 in Einsiedeln dieses Anliegen auf.
Die politische Wende 1989 führte zu ganz neuen Möglichkeiten. Während z. B. in Rumänien bisher nur heimliche Wege möglich gewesen waren, schlug Erzbischof Lajos Bálint von Alba Julia schon 1990 vor, die Fußwallfahrtstradition in Siebenbürgen durch eine Europawallfahrt zum größten Marienheiligtum Siebenbürgens in Csíksomlyó/Schomlenberg neu zu beleben. Tausende von Pilgern kamen 1993 am Wallfahrtsort zusammen, alle Gemeinden der Diözese waren vertreten.
1996 luden der „Päpstliche Rat der Seelsorge für die Migranten und Menschen unterwegs“ und die ungarische Bischofskonferenz zur Konferenz von Pilgerverantwortlichen nach Máriapócs in Ungarn ein. Das Thema lautete „Die Wallfahrtsorte, wo Gott den Menschen sucht“. Fast 150 Pilgerleiter aus 22 Ländern kamen zusammen. Am Ende der Konferenz war klar, dass sich die Idee der europäischen Wallfahrtsbewegung nach 15 Jahren Erfahrung nun endgültig durchgesetzt hatte. Mit folgendem Aufruf endete der Kongress:
An die Pilger Europas
Geh voran, seit Deiner Geburt bist Du auf dem Weg.
Geh voran, eine Begegnung wartet auf Dich. Wo? Mit wem?
Du weißt es noch nicht. Vielleicht mit Dir selbst.
Geh voran, Deine Schritte werden Deine Worte sein, der Weg Dein Gesang,
Deine Ermüdung Dein Gebet, Dein Schweigen wird schließlich zu Dir sprechen.
Geh voran, allein, mit andern, aber tritt heraus aus Dir,
Du, der Du Dir Rivalen geschaffen hast, wirst Kameraden finden.
Du, der Du Dich von Feinden umgeben siehst, wirst sie zu Freunden machen.
Geh voran, auch wenn Dein Geist nicht weiß, wohin Deine Füße Dein Herz führen.
Geh voran, Du bist für den Weg geboren, den Weg der Pilger.
Ein Anderer kommt Dir entgegen und sucht Dich, damit Du IHN finden kannst.
Im Heiligtum am Ende des Weges, dem Heiligtum im Innersten Deines Herzens,
ist ER Dein Friede, ist ER Deine Freude.
Geh voran, es ist ja der Herr, der mit Dir geht.
Der Kongress in Ungarn war das Ende eines langen Prozesses. Die gewonnene Freiheit in allen Teilen Europas erlaubte viele neue Initiativen. Die Arbeitsgemeinschaft der Wallfahrtsdirektoren im deutschsprachigen Raum trifft sich regelmäßig, um die neuen Möglichkeiten zu besprechen.
Auch auf evangelischer Seite wurde die Freude an der Wallfahrt immer stärker spürbar. Im Mai 1996 entstand „Building Bridges of Hope“, eine Vorbereitungsinitiative für das Jahr 2000. Man wollte ein Netzwerk europäischer Pilgerwege in Deutschland erstellen. Die europäisch-ökumenische Versammlung 1997 in Graz war eine weitere wichtige Hilfestellung.1 Zum Zentrum der evangelischen Pilgerinitiativen wurde die Missionsakademie an der Universität Hamburg.
Der „Päpstliche Rat der Seelsorge für die Migranten und Menschen unterwegs“ gab 1998 eine Erklärung mit dem Titel „Die Pilgerfahrt zum großen Jubiläum“ heraus. Sie sollte vor allem ein Ansporn sein für neue Wallfahrtswege und -formen im Jubiläumsjahr 2000. Seither werden immer neue Pilgerwege erschlossen, vor allem die überlieferten Jakobswege. Neben der „Via Sacra“ von Ungarn nach Mariazell entstand eine 550 km lange „Via Sacra“ im Grenzraum Polen, Deutschland und Tschechische Republik. Auch der Weg von Loccum nach Volkenroda zeigt den neuen ökumenischen Aufbruch. Die Taizé-Treffen, die Weltjugendtreffen und die Wege „Zur Bewahrung der Schöpfung“ nehmen immer mehr Wallfahrtscharakter an. Schon seit vielen Jahren sind die Hungertuch-Wallfahrten unterwegs. Neu ist auch, dass sich die Medien immer mehr für Wallfahrten interessieren und selbst der Tourismus hier ungeahnte Möglichkeiten entdeckt.
Wir dürfen mit großer Hoffnung der weiteren Entwicklung entgegensehen.
Fußnote:
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Zur Bedeutung der Europäischen Ökumenischen Versammlungen im Rahmen der europäischen Wallfahrten vgl. auch Stephanie van de Loo: „Ein Wort, das die Menschheit nicht überhören kann.“ Auf dem Weg zur Dritten Europäischen Ökumenischen Versammlung in Sibiu/Rumänien 2007. In: OST-WEST. Europäische Perspektiven 8 (2007), H. 1, S. 70-80, bes. S. 77 f. (der gedruckten Ausgabe). ↩︎