Pilgern in Polen
Unterschiede zwischen den polnischen Wallfahrtsstätten beweisen die Vielfalt der katholischen Kirche in Polen und die Trennungslinien, die sich in ihr abzeichnen.
Pilgern – eine archaische, aussterbende Tradition der Volksfrömmigkeit? Nicht so in Polen. Die Polen wallfahren ständig: zu kleinen Kirchlein – wichtig nur für einige Dörfer – und zu heiligen Stätten in Europa. Am liebsten jedoch besuchen sie die Pilgerstätten, die sie am besten kennen: ihren polnischen „locus sacer“. Hier beten sie, tun Buße, danken Gott und bitten ihn um Gnade in ihrer Sprache, in ihrem bekannten Umfeld. Das ist ihr vertrautes Heiligtum.
Prof. Dr. Antoni Jackowski, Religionsgeograph aus Krakau und Experte für Pilgerströme, hat berechnet, dass Jahr für Jahr fünf bis sieben Millionen Polen, d. h. etwa 15 Prozent der Bevölkerung, auf Wallfahrt gehen. 2007 mögen es ein Dutzend Tausend weniger gewesen sein, aber das ist immer noch viel, wenn man bedenkt, dass die katholische Kirche in Polen mit ernsten Problemen zu kämpfen hat: Nach den Lustrations-Affären1 sank das Vertrauen in die Hierarchie, immer mehr Gläubige driften ab, Kirchen beginnen weniger voll zu werden, die Zahl der Priesterberufungen sinkt.
Woher kommt die religiöse Mobilität der Polen? Einst war die Antwort auf diese Frage einfach: Man pilgerte aus Dankbarkeit fürs Überleben, in einem Akt der Buße oder im Zusammenhang mit persönlichen Bitten. Im 19. Jahrhundert, als die drei Mächte (Österreich, Preußen und Russland) Polen unter sich aufgeteilt hatten, pilgerte man zu den Gnadenstätten, um dafür zu beten, dass der eigene Staat wieder auf die Landkarte Europas zurückkehre. In der Zeit des Kommunismus wiederum waren Wallfahrten gleichzeitig Ausdruck der Anhänglichkeit an die von den Behörden bekämpfte Religion und Ausdruck des Missfallens für das, was in der Volksrepublik Polen geschah.
Warum aber wallfahren die Polen heute, am Anfang des 21. Jahrhunderts, in der Zeit der fortschreitenden Laizisierung, ebenso gern wie vor vielen Jahren? Erstens: Sie hängen weiterhin sehr an den Traditionen und heimischen Werten: „Wenn wir wallfahren, pflegen wir die familiären und lokalen Bräuche. Auf die Wallfahrten gingen die Großmütter, sie nahmen ihre Töchter mit, jetzt pilgern die Enkelinnen“, erklärt der Soziologe Prof. Dr. Marek Szczepański aus Katowice/Kattowitz. Zweitens ist der Glaube für die Polen weiterhin wichtig, viele suchen darin Zuflucht vor Problemen, die mit den Systemveränderungen 1989 aufkamen. „Ermüdet vom immer schnelleren Leben, suchen die Polen auf den Wallfahrten zu den heiligen Stätten eine andere Welt, Reflexionen, Erholung“, sagen Priester, die Wallfahrten organisieren. Drittens pilgern die Polen, weil sie beieinander sein wollen. Professor Szczepański: „Die Wallfahrt gibt ihnen, was den Menschen im sozialen Leben fehlt – Vertrauen, Sicherheit, tiefgehende Erlebnisse, Nachdenklichkeit. Das Gefühl für Gemeinschaft, für Solidarität.“
Die Polen haben im eigenen Lande einige hundert „heilige Orte“. Professor Jackowski berechnete, dass 430 von den 500 polnischen Pilgerstätten marianisch sind; darunter sind 180 vom Papst gekrönte Darstellungen der Muttergottes. 96 von ihnen sind Wallfahrtszentren, am liebsten aufgesucht werden 37 davon.
Unter ihnen sind vier, die eine längere Beschäftigung verdienen: Da ist einmal der nationale Wallfahrtsort auf Jasna Góra – dem „Lichten Berg“ in Częstochowa –, dann die volkstümliche Pilgerstätte in Licheń, der soziale Gnadenort in Piekary (zu deutscher Zeit: Deutsch-Piekar) und das „päpstliche“ Pilgerziel in Łagiewniki am Rande von Krakau.
Wenngleich die Kirche keine genauen Erhebungen über die Beliebtheit der Gnadenstätten durchführt, kann man die Behauptung wagen, dass sich diese vier Orte bei den Polen der größten Popularität erfreuen. Finden sie in ihnen eine Antwort auf die sie bedrängenden Fragen, einen Hinweis auf den Sinn des Lebens, vertiefen sie dort ihre religiöse, seelsorgerische Bildung? Gewiss in unterschiedlichem Grade und in unterschiedlicher Weise. So wie sie aus verschiedenen Ursachen entstanden und wie unterschiedlich die Polen sind, die zu ihnen pilgern.
Częstochowa/Tschenstochau: die beste polnische Muttergottes
Jasna Góra, der „Lichte Berg“ von Częstochowa, ist seit mehreren Jahrhunderten ein Phänomen. Es ist gleichzeitig ein internationales Heiligtum und ein Zentrum für das nationale Gedenken der Polen. Eine Legende besagt, die „Schwarze Madonna“ – so nennt man dieses Bild der dunkelhäutigen Muttergottes – sei vom Evangelisten Lukas gemalt worden. In Wahrheit ist die Ikone in Mazedonien entstanden. Sie war eine Kriegsbeute der Soldaten des ungarischen Königs Ludwig, die im 14. Jahrhundert auf dem Balkan kämpften; dieser König war ab 1370 auch König von Polen. Im 15. Jahrhundert überfielen Räuber das Kloster auf Jasna Góra. Sie zerschnitten das Bild dergestalt, dass eine Narbe auf dem Gesicht der Muttergottes zurückblieb.
Jasna Góra ist nicht nur ein Kloster, sondern auch eine mächtige Festung. Die Pauliner-Mönche, die das Bild behüten, wollten es auf diese Weise vor weiteren Überfällen beschützen. Im 17. Jahrhundert, als die Schweden Polen angriffen, konnte sich das Kloster erfolgreich verteidigen. Dies sah man ebenso als Wunder wie als Beweis für die außergewöhnliche Tapferkeit der polnischen Verteidiger der Klosterfestung auf Jasna Góra an.
Częstochowa wird für das nach Lourdes bedeutendste Zentrum der Marienverehrung gehalten. Seine Bedeutung wurde von den Päpsten unterstrichen, am stärksten von dem aus Polen stammenden Johannes Paul II. Für die Polen ist es ein ganz besonderer Ort, weil er eine integrierende und die polnische Identität fördernde Funktion hat. Man nannte die Schwarze Madonna bereits im 15. Jahrhundert „Königin Polens und der Polen2, und im 17. Jahrhundert gab man ihr den Titel „Regina Poloniae“. Im 19. Jahrhundert wurde Jasna Góra – wie man formulierte – zur geistigen Hauptstadt des damals nicht bestehenden, weil unter die drei Mächte geteilten polnischen Staates. Professor Jackowski schrieb in seinem Buch „Pielgrzymowanie“ (Auf Pilgerfahrt): „Die Popularität der Verehrung resultierte aus dem Ruhm der Muttergottes von Częstochowa und ihrer Rolle in der Geschichte der polnischen Nation, insbesondere in den zahlreichen Perioden der Unfreiheit und zur Zeit des kommunistischen Regimes. Diese Verehrung beeinflusste und beeinflusst weiterhin die Religiosität der Polen und das Leben der Kirche in Polen.“
Ein Beweis für die Richtigkeit dieser These ist die Tatsache, dass Anfang August jeden Jahres über 40 Diözesan- und einige Dutzende regionale Wallfahrtsgruppen nach Jasna Góra aufbrechen. Höhepunkt ist der 15. August – das Fest Maria Himmelfahrt. Da pilgern Junge und Alte, Sträflinge auf Freigang schieben die Wagen von Behinderten, da gehen die Roma, die Rauschgiftsüchtigen, die Bauern, Feuerwehrleute und Lehrer ... Jährlich kommen etwa vier Millionen Gläubige hierher.
Auf den Wallfahrten nach Częstochowa begegnen sich jene Polen, für die nach Kirche und Familie das Vaterland den höchsten Wert darstellt. Eine ältere Frau, die Anfang August 2007 mit der Pilgergruppe ihrer Pfarrei aus der Gegend von Kielce hierherkam, erklärte mir: „Warum sollte ich zu anderen Gottesmüttern fahren? Hier ist ja unsere polnische. Częstochowa ist die wichtigste Hauptstadt Polens, ich war nicht einmal im Warschau.“
Hierher wallfahren auch die Intellektuellen: „Jasna Góra bewahrte mich davor, in eine Sackgasse zu geraten“, erklärt Wojciech Kilar, bekannter Komponist, Schöpfer der Musik u. a. für den Coppola-Film „Dracula“. „Die Menschen aus Westeuropa beneiden uns darum, dass wir Polen so gläubig sind“, sagt er. Das ist der Kern des Phänomens Jasna Góra. Hier spüren die Polen ihre – nationale und religiöse – Außergewöhnlichkeit, hier fühlen sie sich aufgewertet. Hier finden sie den Sinn ihrer individuellen, nationalen und staatlichen Existenz. Es gibt jedoch die andere Seite der Medaille. Nicht zufällig trifft Pater Tadeusz Rydzyk, Chef von „Radio Maryja“, gerade hier bei Wallfahrten mit den Hörern seines Senders zusammen und versucht sie zu überzeugen, dass nur ein Katholik wahrer Pole sei. Viele Pilger denken genauso und verknüpfen Bekenntnis mit staatlicher Zugehörigkeit. Stolz auf das Katholischsein ist gleichzeitig der Stolz, Pole zu sein. Die Madonna von Częstochowa ist die „beste“, weil unsere, polnische Muttergottes.
Damit stellt sich die Frage, ob ein solch archaisches Denken in Zeiten der Europäischen Union Sinn hat und Jasna Góra nicht zur Bühne für alle jene wird, die sich aus unterschiedlichen Gründen nach den Veränderungen des Jahres 1989 ausgeschlossen fühlen, nicht einverstanden sind mit der Zugehörigkeit Polens zur EU und in Europa nur Gefahren sehen.
Licheń: ein Wallfahrtsort für die einfachen Menschen
Das nördlich von Częstochowa gelegene Heiligtum in Licheń, einem Dorf nahe der Stadt Konin, wird von vielen als mit Jasna Góra „konkurrierende“ Pilgerstätte gesehen. Seine Popularität wächst von Jahr zu Jahr, wenngleich sie erst vor einem Dutzend Jahren einen Massencharakter annahm. Es ist die am stärksten „volkstümliche" unter den polnischen Wallfahrtsstätten: Die riesige, 2004 eröffnete Basilika sollte das Bauwerk werden, das dem Geschmack des durchschnittlichen polnischen Katholiken am ehesten entspricht. Überwältigend ist es in seiner Pracht: Auf einer Grundfläche von zwei Hektar fasst die Kirche 7.000 Menschen und hat 400 Fenster. Ein wenig erinnert sie an Jasna Góra, den Wawel (den Sitz der Könige in Krakau) und die Krakauer Marienkirche. Spezialisten meinen immer wieder, dass dies eine Kompromittierung von Architektur sei, aber Menschen mit Grundschul- oder auch Oberschulbildung gefällt die Basilika sehr. Die Marianen-Patres, in deren Obhut die Pilgerstätte ist, sagen immer wieder stolz, dies sei das größte Gotteshaus in Polen, das siebtgrößte in Europa und das elftgrößte in der Welt.
Am Anfang der Geschichte von Licheń steht die Muttergottes, die einem napoleonischen Soldaten erschienen sein soll (die Polen strömten in die Armee Napoleons, weil sie glaubten, er bringe die Befreiung Polens von der Herrschaft der drei Teilungsmächte und schaffe einen polnischen Staat). Sie soll den Weißen Adler (das polnische Wappen) an ihre Brust gedrückt und gesagt haben: „Mein Volk wird vor meinem Bild beten und die Kraft meiner Gnaden in den für sie schwierigsten Zeiten schöpfen.“ Der Soldat fand ein Muttergottesbild, das seiner „Gesprächspartnerin“ täuschend ähnlich sah. Viele Jahre hielt er es in Ehren, nach seinem Tode nahm ein einfacher Hirte es in Obhut. Auch zu ihm soll die Muttergottes wiederholt haben, dass Polen wieder ein Staat werde, wenn die Polen sich bekehren und in Einklang mit den kirchlichen Grundsätzen leben.
Der Bau der Basilika in Licheń, die als Denkmal des Christentums und Votum der Nation werbend herausgestellt wird, begann 1992 ausschließlich aus Spenden der Gläubigen. Jährlich kommen eine Million Pilger hierher, zumeist am 15. August. Jene, die besonders viel für das Heiligtum spenden, finden ihre Namen auf besonderen Wohltätertafeln verzeichnet. Hier gibt es Informationspunkte, Vortragssäle, bewachte Parkplätze, Andenkenkioske. Und zahlreiche Attraktionen: Kerzenprozessionen, zu jeder Zeit die Möglichkeit zum Beichten, Nachtwachen, sogar eine 10 Kilometer lange Bußwallfahrt.
Wer pilgert nach Licheń? Katarzyna Marciniak von der Universität Poznań/Posen, die hier Untersuchungen anstellte, meint, es handle sich hauptsächlich um Frauen und Bauern mit Grundschulbildung. Sie sind angerührt von dem hiesigen Golgotha, begeistern sich an den riesigen Dimensionen der Basilika. Sie kaufen die Büchlein mit Gebeten, die für alles gut sind: für Sorgen mit den Kindern, die Trunksucht des Ehemannes oder für Probleme mit der Gesundheit. Intellektuelle trifft man in Licheń selten. Die Golgotha-Stätte und die Basilika sehen sie als Kitsch an, sie können sich in der Flut religiöser Symbolik nicht konzentrieren.
P. Adam Boniecki, Chefredakteur der Krakauer katholischen Wochenzeitung „Tygodnik Powszechny“, ehemaliger General des Marianen-Ordens, erklärte das Phänomen Licheń in der Tageszeitung „Gazeta Wyborcza“: „Das ist ein Ort der Volksfrömmigkeit, der sich in äußeren Praktiken ausdrückt. Die einfachen, armen Menschen fühlen sich hier sicher und daheim.“ Warum Licheń? „Weil es dort schön ist und man Kraft sammeln kann. Das ist ein Wallfahrtsort, der zu uns passt, der polnisch ist. Allen meinen Bekannten gefällt er“, erklärt mir Marianna Zając aus Kattowitz, eine Schneiderin. Zu diesem Wallfahrtsort kommt sie jedes Jahr, verbringt hier drei bis vier Tage. Manchmal nimmt sie an einer eintägigen Fahrt teil, organisiert von einer Firma, die Töpfe verkauft. Ein solcher Ausflug kostet 10 Złoty, als Gegenleistung muss man sich nur Vorträge über die Vorzüge der angepriesenen Waren anhören. Marianna sieht in dieser Verbindung von Marketing und Glaube nichts Böses: „Sie verkaufen etwas, und ich profitiere geistlich“, sagt sie lachend.
Łagiewniki: Heilstätte der Göttlichen Barmherzigkeit
Die Popularität des unlängst ausgebauten Heiligtums zur Göttlichen Barmherzigkeit an der südlichen Peripherie von Krakau hängt großenteils mit der Gestalt Johannes Pauls II. zusammen. In dieser früheren Hauptstadt Polens verbrachte Karol Wojtyła Kindheit und Jugend. In Łagiewniki mühte er sich unter der deutschen Besatzung als Arbeiter, und als Papst unterstrich er die Bedeutung der Göttlichen Barmherzigkeit in der Theologie. Von Bewohnern Südpolens gern besucht, wurde es seit kurzem auch obligatorisches Ziel im Fahrtenprogramm für Touristen aus Europa, die Krakau besuchen. Bei der Weihe der Basilika sagte Johannes Paul II.: „Es gibt Zeiten und es gibt Stätten, die Gott auswählt, damit die Menschen an ihnen in besonderer Weise Seine Gegenwart und Gnade erfahren. Und vom Sinn ihres Glaubens geführt, kommen die Menschen zu diesen Stätten, denn sie sind sich gewiss, dass sie tatsächlich vor Gott treten, der dort gegenwärtig ist. Ich bin überzeugt, dass dies (Łagiewniki – Anm. d. Redaktion) ein solcher besonderer Ort ist, den Gott sich erwählte, um hier die Gnade Seiner Barmherzigkeit auszugießen.“
Dieses Heiligtum ist das Weltzentrum für die Verehrung der Göttlichen Barmherzigkeit. Diese Verehrung wurde ursprünglich von der hl. Faustyna Kowalska begründet, die im Kloster Łagiewniki lebte, betete und wirkte. Diese Ordensfrau, eine Mystikerin aus den dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts, verkündete die Botschaft von der Göttlichen Barmherzigkeit, d. h. sie erinnerte daran, dass Gott in seiner Barmherzigkeit jeden Menschen, selbst die größten Sünder, liebt. Auf der Grundlage ihrer Vision entstand das heute in Tausenden polnischen Kirchen verehrte Bild „Jesus, ich vertraue Dir“. „Ich will mich ganz in Deine Barmherzigkeit verwandeln und Dein lebendes Abbild sein, Herr. Möge diese größte Eigenschaft Gottes, das heißt Seine unergründliche Barmherzigkeit, durch mein Herz und meine Seele auf die Nächsten übergehen“, betete Schwester Faustyna Kowalska. Heute wiederholen Pilger aus der ganzen Welt ihre Worte, sie beten nicht nur um Barmherzigkeit für sich selbst, sondern für die ganze Welt.
Dutzende Jahre lang besuchten Pilger die bescheidene Klosterkapelle, in der sich Faustynas Reliquien befanden. Seit einigen Jahren kommen sie zu einer prächtigen modernen Kirche, die sich einfügt in die Krakauer Landschaft. Łagiewniki zieht sowohl bewusste Pilger als auch Touristen an, die Krakau und das berühmte Salzbergwerk in Wieliczka besuchen. Die einen wie die anderen verlassen die Wallfahrtsstätte mit der Überzeugung, dass Gott mehr barmherzig als streng und gerecht sei.
„Ich schaue auf jemanden, der neben mir kniet, und ich denke, dass das kein Fremder ist. Irgend etwas bringt die Menschen hier einander näher, aber ich kann dies nicht genauer beschreiben“, erzählt die Krakauerin Urszula Bobek den Reportern. Seit zwei Jahren wird Łagiewniki das „zweite Tschenstochau“ genannt. Man sagt, von diesem ersten unterscheide sich die Krakauer Pilgerstätte durch die größere Zahl ausländischer Touristen (ohne besondere Werbung besuchen Gläubige aus 60 Ländern, jährlich etwa 100.000, die Basilika) sowie durch die Öffnung zu den eher liberalen, proeuropäischen Katholiken hin. Mehr noch: Seit zwei Jahren betrachtet man Łagiewniki als Symbol gerade einer polnischen Kirche, die sich abhebt von der durch Toruń/Thorn symbolisierten Kirche eines Pater Tadeusz Rydzyk, des Chefs von Radio Maryja (dieses hat seinen Sitz in Thorn). Symbol für die „Łagiewniki“-Kirche ist Kardinal Stanisław Dziwisz, früher Sekretär Papst Johannes Pauls II., jetzt Erzbischof von Krakau – ein entschieden proeuropäischer und Radio Maryja nicht besonders zugeneigter Kirchenführer.
Piekary: Gott zur Ehre, den Kommunisten zum Trotz
Piekary in Schlesien ist eine durch Arbeiter geprägte Pilgerstätte für die fünf Millionen Menschen umfassende vielschichtige oberschlesische Bevölkerung im Südwesten des Landes. Es ist der Ort, an dem man in Polen am stärksten die Hinwendung der Kirche zu sozialen Fragen spürt.
Das größte „Wunder“ der Allerheiligsten Jungfrau Maria, der Mutter der Gerechtigkeit und Sozialen Liebe, ist die Tatsache, dass die Bewohner in dem proletarischen, industrialisierten und verstädterten Schlesien in überwiegender Mehrheit ihre Anhänglichkeit an den Katholizismus bekunden – und das trotz aller Bemühungen der Kommunisten. Piekary wurde schon durch die jeweils im Mai stattfindende Männerwallfahrt zum Symbol dieser Anhänglichkeit. Tausende Bergleute und Hüttenwerker zog es in den Zeiten des kommunistischen Regimes hierher. Es kam vor, dass sich hier 100.000 Menschen zu Füßen des Heiligtums sammelten. Sie hörten, wie Bischof Herbert Bednorz und der Krakauer Kardinal Karol Wojtyła die Achtung vor den bürgerlichen Freiheiten, vor dem Recht der Arbeiter auf Sonntagsruhe verlangten und für den Bau von Kirchen eintraten. „Möge der Lohn für eure schwere Arbeit die Freiheit und der Friede im ganzen polnischen Land sein“, rief Kardinal Wojtyła Ende der sechziger Jahre ihnen zu.
Wilhelm Kowalczyk, ein jetzt in Rente lebender Bergmann aus dieser Gegend, erklärt: „Der Bischof sagte solche Dinge laut, an die wir nicht mal zu denken wagten. Dass wir das Recht haben, unsere Kinder zu taufen, sie zur Kommunion zu schicken, zu beten. Ich dachte bei mir: Muttergottes, was ist denn aus meinem Land geworden, in was für einem Staat müssen wir leben? Ich machte mir bewusst, dass ich nur in der Kirche frei bin.“ Marian, ein ehemaliger Hüttenwerker aus Zabrze: „Ich wanderte mit einem Freund, einem Ungläubigen, nach Piekary. Ich sagte, ich ginge Gott zur Ehre dorthin, er meinte, er mache das gleiche diesen (kommunistischen) Banditen zum Trotz.“ Aber es gab auch solche, die sowohl Gott zum Ruhme als auch den Behörden zum Trotz mitzogen.
Heute, da Schlesien eine Umstrukturierung des Bergbaus durchmacht und die Schwerindustrie sich durch moderne Technologien wandelt, ziehen zu dieser nördlich von Bytom/Beuthen gelegenen Wallfahrtsstätte nicht nur Kumpel und Hüttenarbeiter. Schüler der technischen Fachschulen, Studenten, Bauleute, Lehrer und Ärzte beten um eine feste Arbeit und darum, nicht aus Polen auswandern zu müssen. Sie hören, wie ihr Kattowitzer Erzbischof Damian Zimoń die Unabhängigkeit der Kirche in Polen von der Politik verteidigt: „Die Kirche ist Verteidiger der Gerechtigkeit und der Armen gerade deshalb, weil sie sich weder mit Politikern noch mit Parteiinteressen identifiziert. Nur wenn sie unabhängig ist, kann sie über unabdingbare Werte belehren, kann sie die Gewissen formen und ein Lebensmodell anbieten, das über das politische Milieu hinausgeht.“ Er spricht über das von der Industrie zerstörte Schlesien, er fordert Hilfe für die Arbeitslosen.
Am Sonntag nach Maria Himmelfahrt kommen Frauen in die Basilika. Noch vor kurzem hörten sie artig zu, wenn der Priester oder Bischof bei der Predigt dazu aufrief, sie sollten sich ganz der Familie widmen, die patriarchalische Tradition pflegen, die ihre Unterordnung unter die Männer fordert. Heute verlangen diese Frauen immer häufiger Anerkennung ihres Rechts auf eine eigene Meinung. Sie wollen, dass die Kirche ihnen hilft, mit den Problemen der Gegenart zurecht zu kommen: mit der Notwendigkeit, berufliche Laufbahn und Kindererziehung zu vereinbaren, mit der durch die Emigration bewirkten Trennung, mit der Tragödie der Scheidungen, mit der Abtreibung.
Polens Kirche braucht Versöhnung
Was polnische Katholiken auf Wallfahrten lernen, ob sie in Einklang mit der päpstlichen Botschaft leben werden, das hängt von den Pilgern ebenso ab wie davon, was sie an den Gnadenstätten hören, zu denen sie pilgern. Die aber sind unterschiedlich, so wie die Kirche Polens unterschiedlich und geteilt ist: angefangen vom nationalen, geradezu nationalistischen bis hin zum europäischen, vom schlichten, volkstümlichen bis hin zum sozial engagierten Wallfahrtsort. Die polnischen Pilgerstätten fügen sich auch ein in die Trennung zwischen geschlossener und offener Kirche, zwischen oberflächlicher Frömmigkeit und vertiefter Religiosität. Sogar Politiker wählen jene Wallfahrtsorte aus, die ihnen durch Charakter und Botschaft entsprechen. Deshalb wallfahren Politiker der national betonten, eher einem geschlossenen Katholizismus zugeneigten Partei PiS2, der Partei der Brüder Kaczyński, nach Jasna Góra, die offen denkenden Liberalen, die ebenfalls Katholiken sind, nach Łagiewniki.
Eines ist gewiss: die polnische katholische Kirche steht vor der großen Aufgabe der Versöhnung: „Die Kirche in Polen braucht, wie Wasser und Brot, was Inhalt jeder Wallfahrt ist: Buße, Umkehr und Versöhnung“, schrieb der Schriftsteller, Poet und Publizist Wojciech Bonowicz im August 2007 in der Wochenzeitung „Tygodnik Powszechny“: „Wallfahren, vor allem zu Fuß, ist – verbunden mit größten Entbehrungen – eine Gelegenheit, das eigene Innere zu betrachten, die eigenen Beziehungen, Verpflichtungen; es schafft die Möglichkeit zur Begegnung mit anderen im Zeichen der Buße. Die Kirche in Polen braucht diese innere Gewissensarbeit, die das Gesellschaftliche nicht auslässt, aber immer mit der Frage nach der persönlichen Haltung und persönlichen Verantwortung beginnt.“
Aus dem Polnischen übersetzt von Wolfgang Grycz.
Fußnoten:
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Vgl. dazu auch die Beiträge von Zbigniew Nosowski und Erzbischof Prof. Dr. Józef Życiński in OST-WEST. Europäische Perspektiven 8 (2007), H. 3 (Schwerpunkt „Schatten der Vergangenheit“). ↩︎
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PiS steht für „Prawo i Sprawiedliwość“, „Recht und Gerechtigkeit“. (Anm. d. Redaktion). ↩︎