Lettgallen – der unbekannte Südosten Lettlands

aus OWEP 1/2009  •  von Edgars Cakuls

Der Autor ist Generalsekretär der Caritas Lettland.

Lettgallen (lettgallisch: Latgola, lettisch: Latgale) liegt im Osten und Südosten Lettlands (Fläche: 14.547 km², ein knappes Viertel Lettlands; Bevölkerung 2001: ca. 380.000 Einwohner, ca. ein Sechstel der Bewohner Lettlands). Die größte Städte ist Daugavpils (ca. 110.000 Einwohner), von großer Bedeutung ist auch der Wallfahrtsort Aglona. Nach 1945 sind viele Russen und Weißrussen zugewandert. Die einheimische Bevölkerung ist ganz überwiegend katholisch. Lettgallen ist industriell kaum entwickelt, zählt jedoch landschaftlich zu den schönsten Regionen des Baltikums (zahlreiche Seen). – Die Region gehörte seit dem 16. Jahrhundert zu Polen-Litauen und blieb katholisch, was auch zur besonderen kulturellen und sprachlichen Identität der Lettgallen gegenüber den übrigen Letten beigetragen hat.

Eine der beliebtesten Sehenswürdigkeiten in Riga ist das Ethnographische Freilichtmuseum. Vor Jahren wurden Gebäude, die in den vier größten Landesteilen Lettlands, in Kurland (Kurzeme), Semgallen (Zemgale), Livland (Vidzeme) und Lettgallen (Latgale), als typisch lettische Baumuster anerkannt worden waren, dorthin gebracht und in der Originalfassung wieder aufgebaut. Dabei ging man nach dem Prinzip der Landesteile vor, um das jeweils Besondere hervorzuheben. Bei Lettgallen finden sich zwei Elemente, die sonst nicht auftauchen: das Kruzifix am Straßenrand und Heiligenbilder in den Zimmern. Auch das Kreuz als Element in der Volkstracht gibt es nur in Lettgallen. Dies hängt mit dem tiefen katholischen Glauben zusammen, der sich dort trotz aller historischer Wechselfälle erhalten hat.

Lettgallen liegt im Osten und Südosten Lettlands; die Fläche der Region beträgt 14.547 km² (ein knappes Viertel Lettlands), die Bevölkerung umfasste 2001 ca. 380.000 Einwohner (ca. ein Sechstel der Bewohner Lettlands). Lettgallen trägt auch den Namen „Land der Blauen Seen“, da man dort 972 Seen zählt. Man könnte Lettgallen aber auch als „Land der Kirchen“ bezeichnen, da sich von 290 lettischen katholischen Gemeinden 116 in Lettgallen befinden.

Historische Wurzeln

Wir müssen zunächst in die Geschichte schauen, um zu verstehen, worin sich Lettgallen vom übrigen Lettland unterscheidet. Die ersten baltischen Stämme, darunter auch die Vorfahren der Lettgallen, ließen sich im 6. und 7. Jahrhundert n. Chr. an der Ostseeküste nieder und drängten die bis dahin dort lebenden finno-ugrischen Stämme nach Norden ab. Im 10. Jahrhundert bildeten sich dann unter diesen Stämmen größere baltische Kulturen heraus, unter denen die Lettgallen den höchsten Grad an Staatlichkeit erreichten.

Schon früh gab es Versuche zur Christianisierung, zunächst von Seiten Dänemarks (1048 Errichtung der ersten Kirche auf lettischem Boden), bald aber auch von Osten. Beides blieb Episode. Im 12. Jahrhundert setzte dann die systematische Missionierung ein, zunächst an der Küste unter den Liven. Eine wichtige Rolle spielte dabei der Augustinermönch Meinhard, der 1186 in Ikšķile (Uexküll) zum Bischof geweiht wurde und bis heute große Verehrung genießt. Sein zweiter Nachfolger war der Kanoniker Albert von Bremen, der entscheidend sowohl die Christianisierung der lettischen Stämme als auch die Entwicklung staatlicher Strukturen in Livonia (Livland) vorantrieb. Livonia umfasste das heutige Territorium von Lettland und Estland und wurde damit zur Keimzelle beider Staaten. 1201 gründete Bischof Albert die Stadt Riga, die heutige Hauptstadt Lettlands und größte Stadt des Baltikums.

Umstritten ist, ob man von einer Missionierung mit „Feuer und Schwert“ sprechen kann, da in Lettland der Schwertbrüderorden, ein Zweig des Deutschen Ordens, eine wichtige Rolle spielte. Nach Ansicht vieler Historiker gäbe es heute ohne den Einsatz der Ritter weder Lettland noch Estland; obwohl sie oft gewalttätig waren, schützten sie die Grenzen von Livland gegen slawische Stämme und somit auch die Einheimischen vor der Assimilation, die sonst sicher erfolgt wäre. Somit bleibt festzuhalten, dass das unter Bischof Meinhard begonnene Werk letzten Endes nur auf Gott hin ausgerichtet war – selbst die sowjetische, atheistische Propaganda konnte ihm nichts vorwerfen. Als Papst Johannes Paul II. 1993 Riga besuchte, hat er die Verehrung des hl. Meinhard erneuert. Sein Grab befindet sich in der heute lutherischen Domkirche.

Im 16. Jahrhundert kam es dann zu einschneidenden politischen und religiösen Veränderungen. Durch die Zugehörigkeit Rigas zur Hanse gewann die Reformation in der Küstenregion rasch an Zulauf und setzte sich in großen Teilen Livlands durch. Das alte Staatsgebilde brach endgültig im so genannten livländischen Krieg (1558-1583) zusammen. Für die weitere Entwicklung waren dann die polnisch-schwedischen Auseinandersetzungen zwischen 1600 und 1629 entscheidend. Kurland, Livland und Riga fielen an die schwedische Krone und erlebten eine wirtschaftliche Blütezeit; Lettgallen, das Polen-Litauen zugeschlagen wurde, blieb katholisch und arm.

Lettgallen im Russischen Reich

Nach dem Großen Nordischen Krieg (1700-1721) besetzte Russland Livland und Riga, später auch das Herzogtum Kurland; Lettgallen fiel infolge der Teilungen Polens im 18. Jahrhundert an Russland. Seit dieser Zeit war Lettgallen wie die übrigen Gebiete einer starken Russifizierung ausgesetzt, sowohl durch Zuwanderer aus dem Inneren des Zarenreiches als auch durch staatlich geförderte Versuche, den orthodoxen Glauben zu verbreiten. Dies geschah durch zahlreiche verführerische Anreize. Trat z. B. ein Bauer zur orthodoxen Kirche über, so bekam er ein Grundstück zu günstigeren Bedingungen als andere. Viele nahmen in Livland diese Angebote an, die Bewohner Lettgallens zogen es jedoch vor, lieber in Armut zu bleiben, als die Religion zu wechseln. Jedoch gab es viele Lettgallen, die ein anderes Angebot der Russen annahmen: Bis zu 60.000 wanderten freiwillig nach Sibirien aus, wo der Zar ihnen kostenlose Grundstücke anbot. Leider wurden viele Siedlungen während der stalinistischen Diktatur vernichtet. Bemerkenswert ist aber, dass Russland als einziger Staat der Welt die Lettgallen als eigene Nation anerkannt hat, denn die lettgallische Sprache genießt dort den ofiziellen Status einer Minderheitssprache.

Da Lettgallen sehr lange unter der russischen Herrschaft stand, war das Fortleben der Lettgallen als Nation stark gefährdet; auch blieb die kulturelle und wirtschaftliche Entwicklung zurück. So wurde beispielsweise das erste gedruckte Buch in Lettgallen 150 Jahre später herausgegeben als Bücher in anderen Landesteilen Lettlands. Ebenso wurde die Leibeigenschaft 50 Jahre später abgeschafft als anderswo in Lettland. Mitte des 19.Jahrhunderts begann dann im Baltikum die Zeit des nationales Erwachens. Die gesellschaftlich und kulturell aktivsten Menschen (die so genannten „Neuletten“) forderten für das lettische Volk die gleichen Rechte, die für andere Völker seit langem eine Selbstverständlichkeit waren – in Lettgallen war dies gar kein Thema! Als Ende des 19. Jahrhunderts die russische Regierung die Unruhen unterdrückte, verbot sie in Lettgallen sogar den Buchdruck, sodass die kulturelle Entwicklung Lettgallens für weitere 40 Jahre blockiert blieb.

Trotz der schlechten Bedingungen bewahrten sich die Lettgallen ihre eigene Sprache und Kultur, wobei der Katholizismus eine große Rolle spielte. Die übrigen Landesteile Lettlands gingen andere Wege und „entdeckten“ diese Region eigentlich erst nach dem ersten Lettgallischen Kongress 1917, und zwar aus politischen Gründen. Während dieses Kongresses wurde die Entscheidung getroffen, Lettgallen in den neuen selbstständigen lettischen Staat einzugliedern. Der Priester Francis Trasūns und andere katholische Priester, die aktive Mitglieder der nationalen lettgallischen Bewegung waren, haben bei der Gründung des neuen Staates eine bedeutende Rolle gespielt, denn damals machten die Lettgallen ca. 30 Prozent der Einwohner Lettlands aus.

Lettgallen innerhalb der Republik Lettland

Als am 18. November 1918 das unabhängige Lettland proklamiert wurde, war das auch eine Chance für Lettgallen. Zwischen 1920 und 1940 spielten sich große sozio-ökonomische Veränderungen ab: Ausbau des Schulnetzes, vielfältige kulturelle Aktivitäten, Abschaffung des russischen Dorfsystems und Übergang zu Einzelbauernhöfen auf dem Lande. Allerdings blieben die Bemühungen der Lettgallen um Kulturautonomie – Sprache, Tradition und Religion unterschieden sich erheblich von denen in den anderen lettischen Landesteilen – während der ersten lettischen Republik ohne Erfolg. Die lettgallische Sprache erhielt keinen ofiziellen Status auf der Staatsebene.

Zur gleichen Zeit war die Übervölkerung Lettgallens Ursache für hohe Arbeitslosigkeit, die dann eine Migrationswelle auslöste. Die Lettgallen zogen als Knechte in andere Landesteile, wo sie oft wegen unterschiedlicher Sprache, Religion und äußerer Armut von den übrigen Letten verachtet und ausgelacht wurden. Bis heute gibt es in der lettischen Umgangsprache eine verächtliche Bezeichnung für Lettgallen „čangaļi“, worauf die Lettgallen mit „čiuļi“ antworten, eine Bezeichnung für Letten, die aus anderen Landesteilen kommen und lutherisch sind.

1940 wurde Lettland zusammen mit Litauen und Estland von der Sowjetunion annektiert. Im Zweiten Weltkrieg und direkt danach verlor Lettland viele Menschen nicht nur auf den Schlachtfeldern, sondern auch aufgrund der Repressionen der Kommunisten und der nachfolgenden Emigration in den Westen. Viele Bewohner wurden auch nach Sibirien verschleppt. Besonders zu leiden hatten Geistliche und aktive Gemeindemitglieder; das setzte sich nach dem Zweiten Weltkrieg fort.1 Die sowjetischen Jahre hatten allerdings auch etwas Positives. Viele Lettgallen zogen wieder in andere Regionen Lettlands, diesmal aber nicht als Knechte, sondern als gleichberechtigte Bewohner. Leider kamen an ihrer Stelle Russen und Weissrussen. Insgesamt ging es wirtschaftlich und kulturell langsam aufwärts.

1991 wurde die Unabhängigkeit Lettlands wiederhergestellt. Das brachte neue Möglichkeiten, aber auch Herausforderungen für Lettgallen mit sich.

Lettgallen heute

Lettgallen ist immer noch eines der schönsten Gebiete Lettlands. Sein größter Schatz sind die Menschen, die sich seit Generationen ihre besondere herzliche Mentalität bewahrt haben. Natürlich gibt es auch Probleme, und die große Arbeitslosigkeit verschärft noch die Situation. Dank der Unterstützung der EU erlebte Lettland einige Jahre eine rasche Entwicklung, die allerdings aktuell in eine ernste Krise umgeschlagen ist. In solchen Fällen besteht immer die Tendenz, Lettgallen zu benachteiligen und dort weniger zu investieren. Leider gehört die Region zu den ärmsten Gebieten in der EU. Schwerpunkte der Produktion sind Holz- und Milchwirtschaft. Mit beiden Produkten lassen sich aber gegenwärtig kaum Gewinne erzielen. Viele Fabriken und Werke wurden nach 1991 geschlossen, der Aufbau kleiner Unternehmen ist sehr schwierig.

Lettland ist heute Transitland, in gewissem Maße Brücke zwischen der EU und Russland. Lettgallen nimmt einen wichtigen Platz ein, da es an Russland und Weißrussland grenzt, profitiert jedoch kaum davon. Die wirtschaftliche Situation führt wieder zur Migration: Die jungen Leute verlassen Lettgallen und suchen Arbeit entweder in Riga, in anderen Regionen Lettlands oder entscheiden sich dafür, ins Ausland, nach Irland, England, Schottland oder Norwegen, arbeiten zu gehen. Natürlich ist Lettland ein kleines Land, daher kann man nicht sagen, dass Leute, die in anderen Regionen Lettlands arbeiten, für Lettgallen verloren seien. An den Wochenenden verlassen beträchtliche Autoschlangen die Hauptstadt und fahren in den Osten des Landes. Junge Lettgallen besuchen regelmäßig ihre Heimat. Somit entwickelt sich Lettgallen langsam zur Ferienregion. Der Tourismus insgesamt ist noch schwach ausgebildet; dennoch gibt es Touristen, die gerne ihren Urlaub in einem ökologisch reinen, naturbelassenen Gebiet verbringen wollen. In einer Werbung wird Lettgallen als Urlaubsregion gepriesen, die „reich an Wäldern und Seen ist und wo man Europa wie vor 1000 Jahren besichtigen kann“ – ein Kompliment, das zum Nachdenken anregt.

Gibt es eine lettgallische Identität?

Nach 1991 hat sich, ähnlich wie in der ersten Republik, die lettgallische Kulturidentität stärker zu Wort gemeldet. Nun gab es immer Diskussionen darüber, ob sich die Lettgallen von den übrigen Letten wesentlich unterscheiden. Ohne die oben dargelegte historische Entwicklung wäre dies sicher nicht der Fall. Zwei besondere Faktoren sind auf jeden Fall zu nennen:

  • der tiefverwurzelte katholische Glaube und
  • die lettgallische Sprache.

Wenn man über den katholischen Glauben spricht, muss man feststellen, dass die religiöse Identität oft über die nationale Identität dominiert hat. Es gab sogar seltsame Fälle bei Volkszählungen, wo einige Lettgallen ihre Nationalität mit „Katholik“ umschrieben haben. Tiefere Ursache für diese Einstellung ist die starke religiöse Prägung durch Ordensgeistliche, besonders Dominikaner und Jesuiten, die zu einer tiefen Verwurzelung der katholischen Identität geführt hat. Dies erklärt auch, warum Lettgallen heute das Zentrum der Katholiken Lettlands ist und eine eigene Diözese bildet. Hier befindet sich der meistbesuchte Wallfahrtsort Lettlands, Aglona, der von Dominikanern betreut wird. Jedes Jahr kommen hierher am 15. August Hunderttausende von Pilgern, nicht nur Katholiken, sondern auch Vertreter anderer Konfessionen. Lettland ist ein Land vieler Konfessionen, die sehr friedlich miteinander umgehen. Grund für diese praktizierte Ökumene ist die Erinnerung an das gemeinsame Verfolgungsschicksal in der sowjetischen Vergangenheit.

Das zweite Merkmal der Identität der Lettgallen ist die Sprache. Die Philologen haben lange gekämpft und diskutiert, um zu beweisen, ob sich die lettgallische Sprache wesentlich vom Hochlettischen unterscheidet oder ob sie nur ein Dialekt der lettischen Sprache ist. Letztlich hat sich die erste Ansicht durchgesetzt. Da die Lettgallen in Lettland in sowjetischer Zeit oft Bürger zweiter Klasse waren, haben sich vor der Wende viele geschämt, lettgallisch zu sprechen. Sie haben lettisch gesprochen, aber einen echten Lettgallen kann man sofort an seinem Akzent erkennen. Nach der Wende hat sich alles geändert. Die lettgallische Sprache ist zum Element des Nationalbewusstseins geworden, sogar die jungen lettgallischen Rockstars treten damit auf. Immer mehr Bücher erscheinen in Lettgallisch. Ein Exillette hat einen Sender „Latgales radio“ gegründet, der sich großer Beliebtheit erfreut. Nicht vergessen darf man die Rolle der katholischen Kirche: Viele Jahre lang war sie die einzige Institution, in der man lettgallisch sprechen konnte. Heute werden in vielen Kirchen die Hl. Messen auf Lettgallisch gefeiert, auch in Riga.

Lettgallen in Lettland und in Europa

In der Epoche der Globalisierung, die auch Bedrohungen für die Identität der kleineren Völker birgt, könnten die Erfahrungen der Lettgallen bei der Bewahrung ihrer Identität ein positives Beispiel für andere Völker sein. Die Kraft der lettgallischen Kultur beruht auf ihrer Verankerung im christlichen Glauben – das ist wesentlich. Die Lettgallen schauen mit christlichem Optimismus in die Zukunft und sind zugleich sehr patriotisch.

Gastfreundschaft ist eine der Haupttugenden der Lettgallen, die immer wieder beeindruckt und überrascht. Daher hoffe ich, liebe Leserinnen und Leser, dass Sie auch einmal nach Lettgallen kommen und selbst die Schönheit dieser Region und die bescheidene Herzlichkeit ihrer Bewohner erleben dürfen.

Aus dem Lettischen übersetzt von Inese Mičule.


Fußnote: