OWEP 4/2013
Schwerpunkt:
Sport – Nation – Politik
Editorial
Die Bedeutung des Sports für das politische und gesellschaftliche Selbstbewusstsein von Nationen wird häufig unterschätzt. Vor allem von denjenigen, die sich für Sport nicht interessieren. Doch spätestens wenn die Bilder von Europameisterschaften oder Weltmeisterschaften über den Globus flimmern und sich schließlich auch der letzte Sportmuffel eine Nationalfahne ans Auto klemmt, wird die Macht des Sports über die Gesellschaft deutlich. Was die Politik häufig nicht leisten kann, vermag zuweilen ein Ball. So lernten die Deutschen bei der Fußball-WM im eigenen Land 2006 ihre Nationalfarben neu lieben, und auch die Polen entwickelten durch die Fußball-EM 2012 ein neues, fröhliches Verhältnis zu ihrer Fahne, das bislang geprägt war von Stolz, aber auch von der Erinnerung an tragische Ereignisse der eigenen Geschichte. Freilich scheint der Fußball in dieser Beziehung konkurrenzlos in Europa, für manchen Fan mag er als Ersatzreligion dienen: Anhänger „pilgern“ zu Spielen, Arenen werden zu „Fußballtempeln“, und die Duelle finden auf „heiligem Rasen“ statt. „In Zeiten, in denen immer weniger die Gesellschaft zusammenhält, wird der Fußball zum sozialen Kitt. Keine Religion kann das mehr leisten …“ schrieb der „Focus“ in seiner Titelstory im August diesen Jahres. Andererseits wird der Sport in manchen Ländern als Ventil gesellschaftlicher Frustration oder religiöser Instrumentalisierung missbraucht. Doch nicht in allen Nationen steht der Fußball im Zentrum der sportlichen und politischen Aufmerksamkeit. Auch andere Sportarten prägten maßgeblich die Geschichte einzelner Länder, so das Eishockey in Tschechien oder Basketball in Litauen.
Das vorliegende Heft zeigt an unterschiedlichen Beispielen aus Ländern Ostmitteleuropas den Zusammenhang von Sport, Politik und nationaler Identität auf. Dabei spielt der Blick in die Geschichte ebenso eine Rolle wie die Situation des Sports in den gegenwärtigen politischen Verhältnissen.
Die Redaktion
Kurzinfo
Über sportliche Ereignisse lässt sich nur schwer sachlich diskutieren – zu sehr spielen immer auch Emotionen mit. Weil Sportereignisse und sportliche Höchstleistungen viele Menschen begeistern, ist Sport stets auch in der Gefahr, von unterschiedlichen Seiten her vereinnahmt zu werden. Ein klassisches Beispiel bilden die Olympischen Spiele, die ihrer Idee nach die Jugend der Welt zu friedlichem Wettstreit vereinen sollen, oft genug aber von politischen oder auch anderen Kräften missbraucht worden sind und noch immer werden. Noch öfter mischen sich ganz andere Töne in das Sportgeschehen ein, etwa wenn im Fußballstadion Spieler wegen ihrer Herkunft oder Hautfarbe von Rassisten beschimpft oder Länderspiele zum Schauplatz nationalistischer Entgleisungen bis zu brutaler Gewalt werden. Keine Region der Erde ist davon ausgenommen, auch in Mittel-, Ost- und Südosteuropa lassen sich dafür Beispiele finden. Das aktuelle Heft von OST-WEST. Europäische Perspektiven möchte diesen Phänomenen unter dem plakativen Titel „Sport – Nation – Politik“ ein wenig auf den Grund gehen.
Im ersten Beitrag des Heftes schildert Lothar Martin, Redakteur von „Radio Prag“, die Entwicklung des Eishockeysports in Tschechien und seine Bedeutung für das Selbstverständnis der Tschechen (und Slowaken) seit den fünfziger Jahren. Die Spiele gegen die Sowjetunion gestalteten sich besonders nach Ende des „Prager Frühlings“ zu Manifestationen des Widerstandes gegen den übermächtigen Nachbarn. Eine ähnliche Politisierung erlebte immer wieder der Fußball in Polen mit Deutschland als Hauptkontrahent. Prof. Dr. Diethelm Blecking, Dozent am Institut für Sport und Sportwissenschaft an der Universität Freiburg, zeichnet diese Geschichte seit den dreißiger Jahren über die Weltmeisterschaft 1974 („Wasserschlacht“ in Frankfurt) bis zur Europameisterschaft 2008 nach. Zur Entwicklung des Nationalbewusstseins in der Ukraine trug der Fußball, wie Thomas Urban, Redakteur der „Süddeutschen Zeitung“, ausführt, wesentlich bei. Er beschreibt die Entwicklung des Sports im Westen wie im Osten des Landes, an der sich die grundsätzlichen Probleme des Landes im Verhältnis zu seinen Nachbarn – Polen im Westen, Russland im Osten – spiegeln. Auch im Beitrag der dpa-Journalistin Kathrin Lauer, die aus Ungarn und Rumänien berichtet, geht es um Fußball, und zwar um Ungarn. Mit dem Jahr 1954, der Niederlage bei der Fußballweltmeisterschaft gegen Deutschland, endete die Zeit des „Goldenen Teams“, das bis dahin zur Weltspitze gehört hatte. Die Autorin skizziert die aktuelle Situation dieses Sports in Ungarn, der nach dem Willen der heutigen Regierung die größtmögliche Unterstützung erhält, um wieder Weltgeltung zu erlangen.
Wiederum ein kleines Land im Kampf mit einem übermächtigen Nachbarn, der in diesem Fall das Land sogar okkupiert hatte: Der in Berlin lebende und in Mittel- und Osteuropa tätige Journalist Markus Nowak beschreibt die Rolle des Basketballs für Litauen, das schon in den dreißiger Jahren erste internationale Erfolge vorweisen konnte. In der sowjetischen Mannschaft nahmen litauische Spieler wichtige Positionen ein und nutzten internationale Auftritte immer wieder, um auf die Lage in ihrer Heimat hinzuweisen. In den beiden nächsten Aufsätzen richtet sich der Blick wieder auf „König Fußball“, diesmal in Südosteuropa. Der in Belgrad lebende Ethnologe Prof. Dr. Ivan Čolović analysiert das Verhalten serbischer Fußballfans, die sich in jüngster Zeit durch brutale Ausschreitungen einen traurigen Ruf erworben haben. An ihnen lässt sich deutlich die Verquickung von Sportbegeisterung mit nationalistischen Auswüchsen festmachen; auch Politik und Kirche spielen im Hintergrund eine recht fragwürdige Rolle. Ähnliches gilt für den Fußball in Bosnien und Herzegowina: Er ist, wie Ivan Korić, European Studies Master-Absolvent in London, ausführt, ein Opfer der Politik geworden. Das Land konnte sich trotz aller internen Probleme vor einigen Wochen für die Weltmeisterschaft 2014 qualifizieren, und es wäre zu wünschen, dass dieser Erfolg die Menschen in diesem geplagten Land wieder etwas mehr zusammenführt. Der letzte Beitrag der kleinen Fußball-Reihe führt die Leserinnen und Leser erneut weiter in die Geschichte zurück, und zwar zu einem Spiel zwischen einer makedonischen und einer bulgarischen Auswahl während des Zweiten Weltkriegs. Der Journalist Tim Graewert schildert Vorgeschichte, Ablauf und Folgen der Begegnung, die vor dem Hintergrund der Auseinandersetzungen um die makedonische Identität ablief und zugleich mit der Ermordung der makedonischen Juden in Konnex stand; über beide Themen und ihre Bewertung herrscht zwischen Skopje und Sofia bis heute Streit.
Abgeschlossen wird das Heft mit zwei Beiträgen aus deutscher Perspektive. Dr. Karen Petry, Mitarbeiterin der Deutschen Sporthochschule in Köln, vermittelt einen Überblick über Spitzen- und Breitensport und deren Organisation in Deutschland. Auch hierzulande griff die Politik immer wieder in ureigene Sportthemen ein, etwa der Forderung nach Spitzenleistungen im Systemvergleich zwischen DDR und Bundesrepublik Deutschland. In einem Interview äußert sich Dr. Michael Vesper, der Generaldirektor des Deutschen Olympischen Sportbundes, grundsätzlich zum Verhältnis von Politik und Sport, Auswüchsen der Fankultur und beschreibt außerdem die Anti-Doping-Maßnahmen auf nationaler und internationaler Ebene.
Einige Literaturhinweise runden das Heft ab. Außerdem liegt das Gesamtjahresverzeichnis für das Jahr 2013 bei.
Ein Hinweis auf das nächste Heft: Im Februar 2014 wird das erste Heft des 15. Jahrgangs erscheinen, das dem Schwerpunkt „Europa 1914 – 2014“ gewidmet sein wird. Im Mittelpunkt steht das „kurze Jahrhundert der Gewalt“ (1914-1989), dessen Entwicklung anhand von Eckpunkten und großen Strukturen vorgestellt werden soll.
Dr. Christof Dahm