Danzig: Hafenstadt unter hohem Himmel

aus OWEP 2/2013  •  von Peter Oliver Loew

Dr. Peter Oliver Loew ist Historiker und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen Polen-Institut, Hauptinteressensgebiete: Geschichte der deutsch-polnischen Beziehungen vom 19. bis 21. Jahrhundert, Geschichte der Polen in Deutschland, Geschichte und Gegenwart Danzigs, Kulturgeschichte.

Zusammenfassung

Polens wichtigste Hafenstadt war über Jahrhunderte Drehschreibe Ostmitteleuropas: Die deutsch geprägte Bürgerstadt wurde durch Handel und Handwerk reich, ehe Kriegswirren und die preußische Annexion 1793 zu einem Niedergang führten. Die Zäsur von 1945, als die Stadt schwer beschädigt und mit polnischen Bewohnern neu besiedelt wurde, ist heute längst Vergangenheit.

Annäherungen

Vielleicht ist es der Schrei einer Möwe. Vielleicht ist es der hohe Himmel. Vielleicht ist es die Backsteinarchitektur der Kirchen und Tore: Selbst wenn man es nicht wüsste, würde man es ahnen – diese Stadt liegt am Meer. Das Meer aber und auch den Hafen muss man lange suchen.

Viel hängt davon ab, wie man nach Danzig gelangt: Wer mit Auto oder Bahn anreist, wird das historische Zentrum der Stadt erreichen, ohne das große Wasser erblickt zu haben.

Danzig: Blick auf die Mottlau mit dem Krantor (© Matthias Kneip)

Wer aber das Flugzeug genommen hat und bei gutem Wetter das Glück hat, im Landeanflug über die Innenstadt zu fliegen, begreift die Lage des historischen Stadtkerns: Dort, wo die kleine Radaune in die größere Mottlau und diese in die Weichsel fließt, erbauten slawische Fischer am Ende des ersten Jahrtausends nach Christus ein Dorf, das schon bald Handel an sich zog. Die Ostsee war nur wenige Kilometer weit entfernt, bestens erreichbar auf dem Unterlauf der Weichsel, jenes halb Ostmitteleuropa durchziehenden Flusses, Hauptschlagader des Warenverkehrs in einer Zeit, in der ungeheure Wälder und weitläufige Sümpfe die Kommunikation zwischen den wenigen Siedlungszentren stark erschwerten.

Erstmals erwähnt wurde Danzig dank seines Hafens – von hier aus nämlich stach im Jahre 997 Bischof Adalbert von Prag in See, um zu den heidnischen Prußen zu gelangen, die ihn bekanntlich bald darauf erschlugen; in der Vita des bald heiliggesprochenen Märtyrers wird die Stadt erstmals genannt. Die kommenden Jahrhunderte sahen einen ungeahnten Aufschwung des Hafens – sei es unter der Herrschaft der Herzöge von Pommerellen, sei es zwischen 1308 und 1454 im Staat des Deutschen Ordens, sei es anschließend bis 1793 als Teil des Königreichs Polen.

Vom Hochmittelalter zur Neuzeit: Blüte und Niedergang

Das Hafengeschehen konzentrierte sich in dieser Zeit auf der Mottlau: Hier, geschützt vor den Unbilden des Meeres, am Rande der Innenstadt, zwischen Langer Brücke und Speicherinsel lagen eng an eng die Segelschiffe, ihre Masten überragten die Bürgerhäuser. Im Jahre 1583 liefen zum Beispiel 2.230 Schiffe in den Hafen ein. Zwischen ihnen bahnten sich zahllose Weichselkähne und Flöße ihren Weg, die aus dem preußisch-polnischen Hinterland brachten, was des Händlers Herz begehrte: Roggen und Weizen von den großen polnischen Gütern, Holz und Waldprodukte. Mit Getreide konnte man phasenweise phantastische Gewinne erzielen, denn gerade die sich rasch urbanisierenden Niederlande waren auf Lebensmittelzufuhr angewiesen. Kein Wunder, dass die Mehrzahl der in den größten Ostseehafen der Frühen Neuzeit einlaufenden Schiffe aus den Niederlanden stammte. Sie kamen keineswegs leer: Salz, Tuche, Heringe, Gewürze, Wein, Luxuswaren fanden sowohl in Danzig als auch im ganzen polnisch-litauischen Staat dankbare Abnehmer; die Stadt war ökonomischer Dreh- und Angelpunkt des Landes und war so groß wie keine zweite zwischen Moskau und Amsterdam.

Der Hafen bescherte Danzig gewaltigen Reichtum, was es der Stadt ermöglichte, zur Not mit erklecklichen Geldzahlungen stets große Autonomie vom König und dem Adel bewahren zu können. Darauf hielt man große Stücke, denn als bürgerliches, seit der Reformation weitgehend protestantisches und größtenteils deutschsprachiges Gemeinwesen war man im vom Adel dominierten, katholischen Polen doch etwas ganz Besonderes.

Doch goldene Zeiten gehen irgendwann einmal zu Ende. In Danzig machte sich der Abstieg seit Mitte des 17. Jahrhunderts langsam bemerkbar – die zwischen Polen und Schweden ausbrechenden Kriege beeinträchtigten den Ostseehandel und zogen die landwirtschaftliche Erzeugungsbasis in Mitleidenschaft. Häfen im Baltikum, aber auch Stettin wurden wichtiger, und mit der allmählichen Verbesserung der Landwege musste auch nicht mehr alles über See transportiert werden. Als Danzig am Ende des 18. Jahrhunderts vom Königreich Preußen annektiert wurde, war es still geworden im Hafen. Nach den Teilungen Polens war die Stadt zeitweise fast völlig von ihrem polnischen Hinterland abgeschnitten, weshalb sie erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einen neuen, relativ bescheidenen Aufschwung nahm – allerdings nicht mehr dank ihres Handels, sondern als preußisches Verwaltungszentrum, Garnison und Industriestandort, während sie ihre polnische Vergangenheit rasch vergaß; 1871 wurde Danzig erstmals in seiner Geschichte Teil eines Deutschen Reichs. Die Werftindustrie entwickelte sich zum Zugpferd der heimischen Wirtschaft, neben kleineren Unternehmen vor allem die 1850 gegründete Königliche (später Kaiserliche) Werft, die ausschließlich Kriegsschiffe baute, und die 1889 entstandene Schichau-Werft, die neben der Produktion von Ozeandampfern ebenfalls für die kaiserliche Marine arbeitete.

Der eigentliche Hafen besaß zwar längst nicht mehr die ursprüngliche Bedeutung, war aber dennoch weiterhin wichtige Drehscheibe für Danzig und sein Hinterland – die preußische Provinz Westpreußen. Da mit dem Anbruch der Dampfschifffahrt die Pötte immer größer wurden, verlagerte sich das Hafengeschehen aus dem alten, engen Mottlauhafen an die Weichsel in Richtung See, wo große neue Hafenbecken entstanden; auch der direkt an der Hafeneinfahrt gelegene Stadtteil Neufahrwasser gewann immer größere Bedeutung für den Warenumschlag.

Das 20. Jahrhundert – von der „Freien Stadt“ zum Symbol des polnischen Freiheitswillens

Die Weltkriege des 20. Jahrhunderts veränderten vieles: Nach dem Ende des Ersten wurde Danzig qua Versailler Vertrag zur Freien Stadt unter Aufsicht des Völkerbunds und mit begrenzten eigenstaatlichen Rechten. Der Hafen wurde einer gemeinsamen deutsch-polnischen Verwaltung unterstellt, die gewährleisten sollte, dass sowohl Polen Danzig als seinen zentralen Seehafen nutzen als auch die Deutschen ihre Rechte würden wahren können. Doch die Wirklichkeit war komplizierter, als sich dies die internationalen Friedensmacher gedacht hatten: Schon 1920 hatten – allerdings auf Initiative der Kommunisten, nicht der Deutschnationalen – die Hafenarbeiter gestreikt, um den Nachschub für die gerade gegen Sowjetrussland kämpfende junge polnische Republik zu unterbinden. Dieses fast traumatische Erlebnis bewegte Polen kurz darauf, im polnischen Küstenabschnitt nördlich von Danzig einen eigenen Hafen zu bauen. Das moderne und modernistische Gdingen sollte sich ab Ende der 1920er Jahre zur harten Konkurrenz des beharrlich an seinem historischen Erbe hängenden Danzigs entwickeln. Dennoch war Polen sehr auf seine vertraglich zugesicherten Rechte in Danzig erpicht, unter anderem darauf, auf der gegenüber von Neufahrwasser gelegenen Halbinsel Westerplatte ein Munitionsdurchgangslager zu errichten, in dem eine kleine polnische Besatzung stationiert war. Nachdem die NSDAP im Juni 1933 die Herrschaft im kleinen Staatswesen erlangt und mit zeitlicher Verzögerung von der „Gleichschaltung“ bis zur Judenverfolgung fast alles nachgeahmt hatte, was Adolf Hitler im Deutschen Reich vorexerzierte, war es diese Westerplatte, die den Auftakt zum Zweiten Weltkrieg gab: Der wenige Tage zuvor vorgeblich zu einem Freundschaftsbesuch in den Danziger Hafen eingelaufene Panzerkreuzer „Schleswig-Holstein“ beschoss im Morgengrauen des 1. September die polnische Halbinsel, nach einer Woche tapferer Verteidigung musste sie kapitulieren. Danzig wurde Teil des Dritten Reichs.

Die Kriegsjahre brachten dem Hafen kriegsbedingt weiteren Verkehr und den Werften Rüstungsaufträge; aufgrund seiner Lage war Danzig auch nur vereinzelt Ziel kleinerer Bombenangriffe. Die Zäsur vom März 1945 war deshalb umso einschneidender: Nach kurzer Belagerung eroberten sowjetische Verbände gemeinsam mit polnischen Einheiten die Stadt. Im Zuge der Kampfhandlungen ging ein Großteil der historischen Innenstadt in Flammen auf, auch die Speicherinsel und viele Hafenanlagen wurden unwiederbringlich zerstört. Sofern die deutschsprachige Bevölkerung – vor 1939 rund 95 Prozent der Einwohnerschaft – nicht vor Kriegsende geflohen war, wurde sie bis 1947 vertrieben. Die neue Bevölkerung stammte aus den unterschiedlichsten Regionen Polens – sowohl aus den westlich und südlich angrenzenden, traditionell slawisch besiedelten Gebieten als auch aus Zentralpolen und den mittlerweile an die Sowjetunion gefallenen ostpolnischen Regionen. Von Meer und Schifffahrt verstanden die Neubürger zunächst nicht viel, doch Not mobilisiert Kräfte, und so nahm der Hafen schon rasch seinen Betrieb wieder auf, obschon er erst in den 1960er Jahren eine größere Dynamik entwickelte. Die Werften wurden als „Stocznia Gdańska“, zwischen 1967 und 1990 mit dem Namenspatron Lenin, weitergeführt und entwickelten sich unter dem fürsorglichen Auge der kommunistischen Partei zu einem landesweiten Vorzeigebetrieb; 1975 wurden Schiffe mit insgesamt über 300.000 BRT vom Stapel gelassen. Im selben Jahr konnte der neue Nordhafen eröffnet werden, der direkt an der Danziger Bucht östlich der Westerplatte gebaut worden war, um große Schiffe und Tanker löschen und beladen zu können: Vor allem Kohle und Koks aus den schlesischen Kohlegruben traten von hier den Weg in die Fremde an, während Erdöl für die Danziger Raffinerie importiert wurde.

Der Hafen machte sich zwar nicht mehr in der historischen Innenstadt Danzigs bemerkbar – torkelnde Seeleute auf Landgang gehörten hier längst der Vergangenheit an –, wohl aber hatte er seinen Einfluss auf die sich rasch ausdehnende Stadt mit ihren 1980 gut 450.000 Einwohnern: Die Seeleute brachten von ihren Fahrten in ausländische Häfen Waren mit, die in der kommunistischen Mangelwirtschaft gesucht waren, von Jeans über Unterhaltungselektronik bis hin zu westlichen Schallplatten, ab und an auch verbotene Druckschriften und etwas, was sich schlechterdings kaum verbieten ließ – Eindrücke und Ideen aus dem Westen. Dieser unkontrollierte Informationszufluss war neben der Heterogenität der noch kaum verwurzelten Neubevölkerung und der zu Warschau peripheren Lage mitverantwortlich dafür, dass sich in den Küstenstädten wie Danzig Widerstand gegen die Staatsgewalt leichter entladen konnte als anderswo in Polen: Im Dezember 1970 wurde eine erste Streikwelle auf den Werften blutig niedergeschlagen, doch im August 1980 hatten die Arbeiter Erfolg: Nach einem mehrere Tage währenden Machtkampf lenkte die Staatsgewalt ein und gab den Beschäftigten der Lenin-Werft unter ihrem charismatischen Anführer Lech Wałęsa nach – erstmals im kommunistischen Ostblock wurde die Bildung einer freien Gewerkschaft erlaubt, der „Solidarność“. Die Ereignisse von Danzig wurden zum Fanal für den gesamten Ostblock; auch nachdem im Dezember 1981 das demokratische Aufbegehren in Polen vom Regime durch die Verhängung des Kriegsrechts unterdrückt wurde, ließen sich die Ideen von Freiheit und Mitbestimmung aus den Köpfen von Millionen von Menschen nicht mehr verbannen. Der Sturz des kommunistischen Systems 1989 und die nachfolgende Demokratisierung Ostmitteleuropas sind eine direkte Folge der Danziger Streiks.

Hafen und Stadt auf dem Weg in eine offene Zukunft

Doch der Übergang zur freien Marktwirtschaft und zu politischem Pluralismus bedeutete für Danzig nicht automatisch den Weg in ein neues goldenes Zeitalter: Die hochsubventionierten Werften taten sich mit der Restrukturierung schwer, die „Danziger Werft“ verlor nicht nur ihren Namenspatron, sondern auch Aufträge, wechselte mehrfach den Besitzer und kämpft heute mit drastisch reduzierter Belegschaft und dem Bau von Windrädern ums Überleben, nur die Reparaturwerft und mehrere kleinere Yachtwerften haben kommerziellen Erfolg. Lange war Danzig auch gehandicapt von der schlechten Verkehrsanbindung, erst in den letzten Jahren verbesserte sich die Lage durch den Ausbau des Flughafens, von dem aus es heute zahlreiche Direktverbindungen nach Deutschland gibt, aber auch durch den Bau einer (noch nicht ganz fertigen) Autobahnanbindung nach Süden sowie durch mehrere lokale Straßenprojekte, durch die sich die chronisch staugeplagte Stadt ein wenig Erleichterung verschafft.

Auch der Hafen kam in den Genuss der verbesserten Infrastruktur, sodass der Nordhafen an der Danziger Bucht umfangreich ausgebaut werden konnte – ein Flüssiggas- und ein Containerterminal erhöhten die Verladekapazitäten erheblich, zusätzlich zu den weiterhin bestehenden Hafenanlagen am Weichsellauf. Somit konnte der Danziger Hafen seine führende Stellung in Polen verteidigen: 2010 betrug der Warenumschlag 27 Millionen Tonnen, womit er klar vor den Häfen Stettin/Swinemünde und Gdingen lag; nur als Fährhafen nach Skandinavien konnte er sich nicht behaupten.

Wer aber nach Danzig reist, mag kaum glauben, dass Danzig wie in der Frühen Neuzeit wieder Zentrum des Schiffsverkehrs ist. Ein Besuch der Stadt beginnt meist mit der Rechtstadt, dem wichtigsten Teil der historischen Innenstadt. Das Staunen ist groß, wenn man zum ersten Mal, vom Hohen Tor aus der Renaissance kommend, am gotischen Festungskomplex von Stockturm und Peinkammer vorbei und durch das prächtig golden verzierte Langgässer Tor die Langgasse betritt: Wunderbar heil und einheitlich präsentiert sich die Stadt, so als habe es das 19. Jahrhundert mit seinen Modernisierungen und das 20. Jahrhundert mit seinen Zerstörungen nie gegeben. Der sanft geschwungene Straßenzug mit den stolzen Fassaden der Bürgerhäuser und der anschließende Lange Markt mit noch eindrucksvolleren Häusern unter dem hohen Himmel lassen bisweilen vergessen, dass fast alles dies rekonstruiert ist, wiederaufgebaut nach den verheerenden Zerstörungen von 1945: Danzig als Polens Fenster zur Welt sollte, so hatten es die stalinistischen Gewaltigen in Warschau beschlossen, schöner errichtet werden, als es Deutsche je gebaut hatten. Und so wirkt die Rechtstadt heute fast wie ein Freilichtmuseum – mit angeschlossenem Museumshafen: Denn wenn man eines der vielen Tore durchschreitet, die die alte Bürgerstadt mit der Mottlau verbinden, stößt man zwar auf Wasser, aber nur noch auf einige wenige Schiffe – einen am Zentralen Meeresmuseum vertäuten Frachter, den erbärmlichen, motorgetriebenen Nachbau eines Piratenschiffes, zwei oder drei weiße Ausflugsdampfer und seit einigen Jahren auch auf immer mehr Yachten, für die hier Anlegestellen entstanden sind. Den eigentlichen Hafen Danzigs muss man lange suchen, und ohne ortskundigen Führer, Hafenrundfahrt oder eigenen Pkw kommt man gar nicht hin. Obwohl er floriert, ist er nicht mehr das Herz dieser Stadt, die sich seit Jahrzehnten Gedanken darüber macht, wo ihr Herz eigentlich schlägt. Aber die Probleme Danzigs mit seiner eigenen Identität – das wäre Stoff für einen ganz anderen Artikel.


Erstmals erwähnt wurde der Danziger Hafen im Jahr 997, als Bischof Adalbert von dort aus zur Missionierung der heidnischen Prußen aufbrach. Seit jeher prägte der Hafen das politische und wirtschaftliche Leben der Stadt Danzig. Er hat eine Landfläche von 652 Hektar, eine Wasserfläche von 412 Hektar und ist der größte Hafen Polens. 2010 betrug der Warenumschlag 27 Millionen Tonnen. Umgeschlagen werden vor allem Container und Schüttgut.