Gefängnisse in Albanien – der lange Schatten der kommunistischen Vergangenheit

(Fallbeispiel)
aus OWEP 2/2014  •  von Marjan Lumçi

Don Marjan Lumçi ist Pfarrer in Tirana und auch zuständig für die Gefangenenseelsorge in der Erzdiözese Tirana-Durrës.

Zusammenfassung

Neben den oft menschenunwürdigen äußeren Verhältnissen in Albaniens Gefängnissen leiden die Inhaftierten unter der Geringschätzung des Individuums, eine Folge des kommunistischen Systems. Ursache für viele Verbrechen ist das Prinzip der Blutrache, deren Überwindung eine Aufgabe ist, der sich Staat und Religionsgemeinschaften gemeinsam stellen müssen.

Es ist ein schwieriges Unterfangen, in einem kurzen Artikel die Situation in den Gefängnissen Albaniens, speziell im Bereich der Erzdiözese Tirana-Durrës, zu erläutern. Mein Beitrag kann daher nur eine erste Einführung vermitteln.

In unserer Diözese liegen neun Gefängnisse, die sich wie folgt aufteilen: ein Frauengefängnis, ein Untersuchungsgefängnis für Frauen und Minderjährige und sieben weitere Haftanstalten, deren Insassen Männer aller Altersgruppen bilden.

Gesellschaftlicher Hintergrund

In der Regel versucht man, das Wort „Gefängnis“ zu umgehen, und benutzt hierfür lieber die Begriffe „Rehabilitierungseinrichtung“ oder „Besserungsanstalt“. Die Katastrophe beginnt genau bei dieser Wortwahl, denn meiner Meinung nach sind diese Gefängnisse alles andere als Besserungsanstalten! Ich kann diesen Begriff nur schwerlich akzeptieren, weil ich nicht der Meinung bin, dass dort etwas zur Rehabilitierung der Häftlinge getan wird. Dafür fehlt es zu sehr an Aufklärung und praktischer Anweisung für das „normale“ Leben.

In Albaniens Gefängnissen ist es, wie man leider immer wieder beobachten muss, um die Achtung der Rechte und Würde der Gefangenen als Menschen schlecht bestellt. In der kommunistischen Zeit galt die Gesamtheit der Gesellschaft mehr als die einzelne Person. Jeder, der unter dem Kommunismus eine Straftat beging, galt als Schande für die Gesellschaft und sollte von allen verurteilt werden. Nicht nur die betroffene Person, sondern auch die gesamte Familie wurde in einer Art von Sippenhaft deshalb geächtet, weil sie das Familienmitglied im Sinne des Systems nicht richtig oder sogar ganz falsch erzogen hatte. Die gleiche Strategie wird häufig noch heute verfolgt: Die Person, die etwas Falsches getan hat, verdient nichts Besseres als eine vollkommene Isolierung von der Außenwelt als „Erziehungsmaßnahme“, obwohl sich dies sicher nicht positiv auf sie auswirken wird. Diese Art von „Rehabilitierungsmaßnahme“ hat wesentlich zum Zerfall der Gesellschaft beigetragen und dazu geführt, dass das Individuum in der albanischen Gesellschaft bis heute einen ziemlich geringen Wert hat.

Zustände in den Gefängnissen

Olexandr aus der Ukraine, Titel des Bildes: „Sorrow“ („Kummer“) – (vgl. dazu den Hinweis in Anm. 23 des vorangehenden Beitrags von Heinz-Peter Echtermeyer in dieser Ausgabe, S. 120 f. der gedruckten Ausgabe)

Die meisten Gefängnisse in Albanien sind ein Überbleibsel der kommunistischen Zeit. Von den neun Gefängnissen, die unsere Diözese betreut, ist lediglich ein einziges nach den gängigen europäischen Richtlinien gebaut worden.1 In den Gefängnissen gibt es jeweils nur einen Raum für Freizeitgestaltungen wie beispielsweise Tischtennis, Diskussionsrunden oder auch Gottesdienste. Auch der Zustand der sanitären Anlagen lässt zu wünschen übrig, was sich besonders im Sommer bemerkbar macht. Im Winter ist die Situation noch unzumutbarer, denn es gibt in den meisten Gefängnissen weder warmes Wasser zum Duschen noch Heizungen, da diese aus Sicherheitsgründen nicht eingebaut werden. Falls eine Heizung vorhanden ist, wird diese erst bei Temperaturen unter null Grad eingeschaltet. Zwar werden vom Staat immer wieder Fördermittel zugesagt, um solche Mängel zu beseitigen – es geschieht aber nichts.

Eine Gesundheitsvorsorge existiert in Albaniens Gefängnissen im Grunde genommen überhaupt nicht. Obwohl jede Einrichtung über einen Arzt verfügt, beschränken sich dessen Dienste auf oberflächliche Besuche und Ausstellen von Rezepten ohne Prüfung, ob die Medikamente nutzen oder eher schaden. Der Zahnarzt wählt statt einer Behandlung häufig das Ziehen eines Zahnes; Augenärzte fehlen gänzlich. Bestenfalls bringe ich dann den Inhaftierten Brillen mit in der Hoffnung, ihnen damit zumindest ein wenig helfen zu können. Auch stellen die Gefängnisse zu wenig Kleidung zur Verfügung. Ich selbst habe es erlebt, dass vor Gericht ein Richter die Verhandlungen nicht durchführte bzw. abgebrochen hat, weil die Angeklagten wegen schmutziger Wäsche einen unangenehmen Geruch verströmten.

Gründe für eine Inhaftierung

Unter den verschiedenen Straftaten in Albanien möchte ich die am häufigsten verbreitete besonders hervorheben: die Blutrache. Sie hat sich meiner Meinung nach in der Zeit der osmanischen Herrschaft über Albanien, die ca. 500 Jahre dauerte, ausgebreitet. In jener Zeit trat nach und nach die Hälfte der Bevölkerung zum Islam über.2

Leider ist die Blutrache auch heute noch sehr stark verbreitet und tief im Bewusstsein der albanischen Bürger verwurzelt. Als Ursache dafür sind besonders die mündlich überlieferten „Volksregeln“ (Kanuni) zu nennen. Ihre Entstehung hängt damit zusammen, dass der Staat zu schwach war (und ist), dem Gesetz Geltung zu verschaffen. Die Menschen sehen sich aus diesem Grund dazu gezwungen, durch Selbstjustiz Gerechtigkeit zu erlangen. Ein weiterer Grund ist die schlechte wirtschaftliche Lage, die besonders in den abgelegenen Bergregionen die Menschen immer wieder in die Verzweiflung treibt und in Stresssituationen Kurzschlussreaktionen provozieren kann.

Angesichts der oben genannten Gründe ergeben sich folgende Situationen für Gefangene und deren Familien:

  • Die Familien sind nicht in der Lage, inhaftierte Angehörige irgendwie zu unterstützen.
  • Die Familien brechen den Kontakt zu den gefangenen Angehörigen aus Gründen des Selbstschutzes ab in der Hoffnung, die Blutrache damit zu beenden, um nicht noch weitere Familienmitglieder zu verlieren. (Dieses Verhalten lässt sich seit einigen Jahren bei Fällen von Blutrache innerhalb eines Familienverbandes oder näheren Bekanntenkreises beobachten.)
  • Die Familie des Gefangenen hat Angst davor, den Gefangenen zu besuchen oder sogar aus dem Haus zu gehen, da sie befürchten muss, dass ein Mitglied der anderen Partei ihr auflauern könnte, um die Blutrache zu vollziehen.

Auch wenn man aufgrund einer Blutrache im Gefängnis sitzt, heißt dies also nicht, dass das eigene Leben oder das der Familie verschont oder in Sicherheit wäre. In den meisten Fällen kehrt erst nach einem zweiten Mord innerhalb der gegnerischen Familie Ruhe ein – eine Art von Gleichgewicht in ihrem Leben wird damit wieder hergestellt. Selbst der Staat verurteilt Gefangene und ihre Familien mit dem Satz: Das gelöschte Leben wird mit einem gelöschten Leben verziehen!

Es ist unbedingt notwendig, zwischen den verfeindeten Familien zu vermitteln. Dies erfordert ein hohes Maß an Zeit und Energie, viele Gebete, aber auch Geld, u. a. für Fahrten zu den Verhandlungen mit den betroffenen Familien oder zum Vereinbaren diverser Termine. Die Vorbereitung und Durchführung solcher langwieriger Prozesse in der Hoffnung, eine Einigung zwischen den Parteien zu erreichen, übernehmen fast ausschließlich Priester.

Die Missionarinnen der Nächstenliebe und ihre Arbeit

Gemeinsam mit den Missionarinnen der Nächstenliebe, den Mutter-Teresa-Schwestern, mit denen ich seit Jahren zusammenarbeite, konzentrieren wir uns im Rahmen unserer Hilfe schwerpunktmäßig auf Personen, die Opfer der gesellschaftlichen Mentalität geworden sind. Die Feier der Heiligen Messe und der verschiedenen Sakramente ist ein erster Schritt für die Gefangenen, das Problem an sich zu erkennen, die Tat, d. h. den Fehler, einzugestehen und sich des Schadens bewusst zu werden, den ihr Tun bewirkt hat. Dies ist ein Anfang zur Reue und zur Versöhnung mit Gott.

Ziel des Einsatzes der Schwestern ist es, die Lage für die Inhaftierten entspannter und erträglicher zu gestalten. Um dies zu erreichen, muss sich der Gefangene dessen bewusst sein, was geschehen ist, seine Situation akzeptieren und versuchen, ein neues Ziel für sein Leben anzustreben.

Diese Ziele, die den Kern unserer Sendung darstellen, erreichen wir durch persönliche Treffen mit den Gefangenen, die Feier von Heiligen Messen und durch das Gespräch. Werden Dialoge jedoch nur religiös geführt, erreichen wir nur wenige Personen. Deshalb ist es unverzichtbar, für verschiedene Arten der Kommunikation offen zu sein, sodass sich niemand ausgeschlossen oder nicht beachtet fühlt.

Einen Weg zur inneren Öffnung bietet künstlerisches Schaffen, also Malerei und Bildhauerei; in den Augen des Betrachters und vor allem in den Augen des Künstlers führt es auch zur Überprüfung der eigenen Situation. Auch in Gefängnissen gibt es Menschen, die kreative kunsthandwerkliche Fähigkeiten besitzen; ihre Förderung eröffnet vielfältige Perspektiven für die Zeit nach Ende der Haft. Solche Maßnahmen, das Los der Gefangenen im Gespräch, mit geistlichen und künstlerischen Angeboten zu erleichtern, mögen nur der berühmte „Tropfen auf den heißen Stein“ sein, aber ich bin mir sicher, dass damit viel erreicht wird.

Aus dem Albanischen übersetzt von Lydia Prenkaj.


Fußnoten:


  1. Vgl. dazu den Hinweis im Beitrag von Heinz-Peter Echtermeyer in diesem Heft (S. 113 der gedruckten Ausgabe). ↩︎

  2. Über Herkunft und gegenwärtige Rolle der Blutrache wird in Albanien kontrovers diskutiert. Informationen bieten z. B. die Beiträge von Hildegard Sühling: Zum Hintergrund der albanischen Blutrache. In: OST-WEST. Europäische Perspektiven 11 (2010), H. 4, S. 286 f. der gedruckten Ausgabe, und Maria Christina Färber: „Unheilbar ist deine Wunde, tödlich deine Verletzung“. Wenn das Blut im neuen Europa zum Himmel schreit. In: ebd., S. 288-296 der gedruckten Ausgabe. ↩︎