OWEP 4/2020

OWEP 4/2020

Schwerpunkt:
Zentralasien

Editorial

Zentralasien liegt völlig im Schatten unserer Aufmerksamkeit. Es ist leider selten, dass von dort berichtet wird. Das liegt vor allem daran, dass die journalistische Berichterstattung immer noch von deutschen Auslandskorrespondenten geleistet wird, die in Moskau sitzen und damit von den Geschehnissen in Kasachstan, Kirgistan, Tadschikistan, Turkmenistan und Usbekistan viel zu weit entfernt.

Dabei ist die Region nicht nur ein exotisches und interessantes Reiseziel für Touristen, sondern die früheren Sowjetrepubliken sind nach ihrer Unabhängigkeit in den 1990er Jahren schon lange aus der Stagnation erwacht und bieten heute eine große Vielfalt. Ihre geopolitische Lage macht es für die Regierungen notwendig, die Beziehungen zu allen großen Spielern in der Region zu pflegen, sei es das aufstrebende China, der traditionelle Partner Russland, aber auch die Europäische Union.

Wir beleuchten dieses komplizierte Beziehungsgeflecht in einem einführenden Beitrag der langjährigen Zentralasien-Expertin Beate Eschment. Die freie Journalistin Birgit Wetzel widmet sich der strategischen Bedeutung der neuen Seidenstraße. Die freie Korrespondentin Edda Schlager ist seit Jahren ständig in der Region akkreditiert und lässt uns an Einblicken in das verschlossene Turkmenistan teilhaben. Ihre Kollegin Othmara Glas beschreibt, wie Frauen zwischen Tradition und Moderne leben.

Die usbekische Journalistin Bagila Bukharbaeva analysiert die langsame Öffnung ihrer Heimat nach dem Tod des langjährigen Diktators Islam Karimow. Wie in Kirgistan die Coronapandemie eine Regierungskrise auslöste und es nach der umstrittenen Wahl zu Protesten kam, beschreibt die kirgisische Autorin Aigerim Turgunbaeva, die das Geschehen vor Ort miterlebt hat. Ein Interview mit dem kasachischen Anwalt und Umweltaktivisten Vadim Ni verdeutlicht, dass die Region in Zukunft vor großen Herausforderungen steht, die nur durch eine grenzübergreifende Zusammenarbeit bewältigt werden können.

Wir hoffen, dass unser Heft Ihnen diese faszinierende Region näherbringt, deren Menschen sich Europa eng verbunden fühlen.

Die Redaktion


Zentralasien im Überblick:

Kurzinfo

Zentralasien liegt den Menschen Mitteleuropas ziemlich fern. Man hat vielleicht eine Vorstellung von grandiosen Hochgebirgsregionen und weiten Steppen, wohl auch davon, dass Orte wie Buchara und Samarkand mit Bauten „aus Tausendundeiner Nacht“ dort liegen – all das stimmt, aber es reicht bei weitem nicht aus, um Geografie, Kultur und Geschichte eines Großraums, der sich über die fünf Staaten Kasachstan, Kirgistan, Tadschikistan, Turkmenistan und Usbekistan erstreckt, auch nur annähernd zu umschreiben. Seit Jahrhunderten gibt es vielfältige Beziehungen zwischen Zentralasien und Europa; erinnert sei nur an die legendäre Seidenstraße oder an etwas so Alltägliches wie die Tulpe, deren Wildformen im Frühjahr die kasachische Steppe erblühen lassen. Das aktuelle OWEP-Heft „Zentralasien“ bietet zahlreiche Anstöße, sich mit diesem wichtigen, jedoch viel zu wenig bekannten Teil Asiens zu befassen

Eröffnet wird die Abfolge der Beiträge mit einem Überblicksartikel von Dr. Beate Eschment, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien (ZOiS) in Berlin. Die fünf Länder sind durch die gemeinsame Zugehörigkeit zum Russischen Reich bzw. zur Sowjetunion geprägt, auch verbindet sie ein durch einen moderaten Islam geprägter religiös-kultureller Hintergrund. Dennoch haben sie seit ihrer Unabhängigkeit 1991 unterschiedliche Entwicklungen genommen, um ein eigenes Profil zu entwickeln; eine engere Zusammenarbeit – auch im Blick auf das Verhältnis zu den wichtigsten Partnerländern Russland und China – zeichnet sich erst in den letzten Jahren ab. Dr. Azam Isabaev, der aus Usbekistan stammt und an der Universität Hamburg im Fach Politikwissenschaft promoviert hat, ergänzt die einführenden Überlegungen, indem er drei Aspekte zur politischen Lage des Großraums besonders herausarbeitet: die Rolle der externen Akteure Russland und China, aber auch die Positionen der USA und der EU in Zentralasien, dann die Zunahme radikaler islamistischer Einflüsse in der Region und schließlich die Nähe zum Krisenstaat Afghanistan, dessen Entwicklung vor allem von den angrenzenden Staaten Tadschikistan, Turkmenistan und Usbekistan mit Sorge betrachtet wird. Ein dritter Beitrag aus der Feder von OWEP-Chefredakteurin Gemma Pörzgen beleuchtet die Rolle Russlands in Zentralasien. Als Nachfolgestaat der Sowjetunion ist das Land zwar bis heute politisch, wirtschaftlich und kulturell eng mit dem Großraum verbunden, sein Einfluss nimmt jedoch durch die Konkurrenz Chinas stetig ab.

Um China und seine wirtschaftlichen Ambitionen in Zentralasien geht es auch im Text der Wirtschaftsjournalistin Dr. Birgit Wetzel. Sie schildert kurz die ökonomische Situation in der Region mit einem Rückblick auf die Entwicklung und Bedeutung der legendären Seidenstraße, die seit der Spätantike China mit dem Mittelmeerraum verband, und skizziert das Projekt der „neuen Seidenstraße“ („Belt and Road Initiative“), das China zur Erschließung neuer Märkte in Asien und Europa vorantreibt. Besonders Kasachstan, aber auch die übrigen Länder Zentralasiens profitieren zwar von diesem Projekt durch den Ausbau ihrer Infrastruktur, allerdings gibt es auch warnende Stimmen, da manche Experten fürchten, die Rolle Chinas laufe auf einen Neokolonialismus hinaus. In ihrem Beitrag kommt die Autorin kurz auf Umweltprobleme in Zentralasien zu sprechen, u. a. auf das Verschwinden des Aralsees, das durch den übermäßigen Wasserverbrauch der Anrainerstaaten verursacht worden ist. Fragen des Umweltschutzes und Umweltbewusstseins stehen auch im Mittelpunkt des folgenden Interviews, das die Journalistin Dr. Birgit Brauer mit dem kasachischen Anwalt und Umweltaktivisten Vadim Ni geführt hat. Seine Bilanz ist ernüchternd: In allen Ländern ist der Umweltschutz ein Stiefkind. Vermüllung der Landschaft und Verschmutzung von Luft und Wasser sind an der Tagesordnung, diesbezügliche Gesetze werden weitgehend ignoriert.

Drei Aufsätze im Heft widmen sich der aktuellen Lage in drei Einzelstaaten, d. h. sie nehmen auch die Folgen der Covid-19-Pandemie in den Blick. Die Journalistin Edda Schlager, die seit 2005 als Zentralasien-Korrespondentin tätig ist und in Kasachstan lebt, befasst sich mit Turkmenistan, das sich von den Nachbarn fast völlig abgeschottet hat. Das autoritäre System unter Präsident Berdymukhamedow ignoriert die demokratischen Grundrechte, sodass auch keinerlei Berichterstattung über die Pandemie, die das Land schwer getroffen hat, möglich ist. Wirtschaftlich liegt das Land zwar am Boden, doch wird es trotz zunehmender Unruhen kaum zu einem Umsturz kommen, da sowohl Russland als auch China aus strategischen Gründen das bestehende System stützen. Völlig verworren ist zurzeit die Lage in Kirgistan, in dem nach „gelenkten“ Parlamentswahlen Anfang Oktober 2020 die Regierung auf Druck massiver Proteste zurücktrat und seither ein Machtvakuum besteht. Die kirgisische Journalistin Aigerim Turgunbaeva beschreibt als Zeugin der Vorgänge die dramatische Situation, die durch die hohen Opferzahlen der Pandemie zusätzlich verschärft wird. Auch in Usbekistan ist die politische Lage, wie die heute in den USA lebende usbekische Journalistin Bagila Bukharbaeva schildert, nicht befriedigend. Zwar hat sich das bevölkerungsreichste Land der Region nach dem Tod des autokratisch regierenden Präsidenten Karimow 2016 etwas geöffnet, aber Menschenrechtsverletzungen wie etwa willkürliche Verhaftungen kommen immer noch vor. Es bleibt die Hoffnung, dass es der jüngeren Generation gelingen wird, in den kommenden Jahren Reformen durchzusetzen.

Auffällig ist in den Ländern Zentralasiens, dass viele Frauen trotz der traditionellen islamischen Prägung der Region ihre Rolle in Staat und Gesellschaft als „modern“ definieren, was sich sowohl in der Berufswahl als auch in der Stellung innerhalb der Familie niederschlägt. Hinter dieser Entwicklung steht die in der Sowjetunion propagierte Gleichstellung von Mann und Frau in Beruf und Familie, die allerdings – wie die in Kasachstan tätige Journalistin Othmara Glas in ihrem Essay über „Frauen in Zentralasien“ belegt – in der Praxis nie unumstritten war und in der Gegenwart auch auf Widerstand stößt: Nicht allen Frauen gelingt der Spagat zwischen Tradition und Moderne, und auch viele Männer lehnen die Emanzipation ab. Einmal mehr geht es damit um die Rolle des Islam, der in Zentralasien ursprünglich eher moderat praktiziert wurde, seit einigen Jahren jedoch immer stärker unter fundamentalistische Einflüsse gerät. Einen Überblick zur religiösen Situation vermittelt Dr. Jeanine Dağyeli, Assistenz-Professorin am Institut für kasachische Sprache und Turkologie an der Nasarbajew-Universität in Nur-Sultan (Kasachstan). Alle Staaten der Region garantieren in ihren Verfassungen die Freiheit der Religionsausübung, de facto stehen die Gläubigen jedoch unter strenger Beobachtung – der Verdacht, Islamistischer Extremist zu sein, dient leider häufig als Vorwand für willkürliche Verhaftungen missliebiger Personen.

Abgerundet wird das Heft durch einige kleinere Rubriken. Auf zwei Seiten sind zunächst die wichtigsten Eckdaten zu Einwohnerzahl, Volks- und Religionszugehörigkeit abgedruckt; enthalten sind auch fünf geografische Skizzen, die eine dem gesamten Heft vorangestellte Skizze der Region ergänzen. Es folgt ein Interview mit der Reiseleiterin Dagmar Schreiber, die seit 2003 Reisen durch die Region organisiert. Sie schildert darin die Folgen der Covid-19-Pandemie für ihre Arbeit und Möglichkeiten einer Wiederaufnahme touristischer Reisen im kommenden Jahr. Abgeschlossen wird das Heft von einer Seite mit Informationen über wichtige Bücher und Websites.

Beigelegt ist dem Heft auch das Gesamtjahresverzeichnis des 21. Jahrgangs von OST-WEST. Europäische Perspektiven.


Ein kurzer Ausblick auf Heft 1/2021, das Mitte Februar des kommenden Jahres erscheinen wird: Unter dem Titel „Belarus – ein Land im Umbruch“ wird sich das Heft mit der aktuellen politischen und gesellschaftlichen Situation in diesem Land, das seit den Präsidentschaftswahlen im August dieses Jahr nicht zur Ruhe kommt, befassen. Zu Wort kommen neben deutschen Experten auch Autoren aus dem Land selbst, die sich z.T. im Exil befinden.

Dr. Christof Dahm

Inhaltsverzeichnis

243
Zentralasien: Regionale Zusammenarbeit als Perspektive für die Zukunft
Beate Eschment
253
Externe Akteure, radikaler Islam und Afghanistan
Azam Isabaev
261
Das Verhältnis zu Russland: Von der Führungsmacht zum Partner auf Augenhöhe?
Gemma Pörzgen
270
Eine Region im Aufbruch: Die neue Seidenstraße in Zentralasien
Birgit Wetzel
278
Umweltsorgen in Zentralasien. Ein Gespräch mit dem kasachischen Anwalt Vadim Ni
Birgit Brauer
282
Turkmenistan: „Die humanitäre Katastrophe ist längst im Gang“
Edda Schlager
290
Kirgistan 2020 – das Volk vereint gegen das drohende Chaos
Aigerim Turgunbaeva
294
Usbekistan nach Karimow – der Wandel steht noch aus
Bagila Bukharbaeva
298
Frauen in Zentralasien: Zwischen Tradition und Moderne
Othmara Glas
306
Überlieferung und Aufbruch: Ein Überblick zur religiösen Situation
Jeanine Dağyeli
312
Länderinfos Zentralasien. Statistische Eckdaten
314
„Der Touristenboom ist wegen Corona zunächst vorbei.“ Ein Gespräch mit der Reiseleiterin Dagmar Schreiber
Gemma Pörzgen
319
Bücher und Websites
OWEP-Redaktion

Summary in English

Central Asia is almost completely outside the attention of Western Europeans. Far too little is known about the geography, history and culture of this region, which was part of the Soviet Union until 1991, when it split into five different states. In addition to some common features, such as the centuries-old religious and cultural influence of the Islam, there are also striking differences in politics and economics, for example when comparing the two largest countries, Kazakhstan and Uzbekistan, with the three smaller ones, Kyrgyzstan, Tajikistan and Turkmenistan. The current issue contains a series of articles on the current situation in the countries of Central Asia, also with a view to the consequences of the Covid 19 pandemic for the region. It also provides impressions of the cultures and traditions of a fascinating region between the Orient and the Himalayas.