Strukturveränderungen im ländlichen Raum Bulgariens vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart
Zusammenfassung
Bulgarien galt im Ostblock als einer der treuesten Partner der Sowjetunion und hat sich hinsichtlich der Entwicklung des ländlichen Raumes ganz am Vorbild des „großen Bruders“ orientiert – mit äußerst problematischen Folgen für die traditionelle Landwirtschaft. Die Folgen sind bis heute spürbar und verstärken sich durch massive Abwanderung und Bevölkerungsrückgang besonders in den Randgebieten Bulgariens. Wirksame Konzepte zur Umkehr dieser Trends sind bisher nicht zu erkennen.
Historischer Hintergrund
Vor dem Zweiten Weltkrieg war die wirtschaftliche Struktur Bulgariens größtenteils agrarisch geprägt.1 Über 75 Prozent der Bevölkerung lebten in Dörfern und verdienten ihr Einkommen mit der Bewirtschaftung landwirtschaftlicher Flächen. Die Exporterlöse Bulgariens resultierten in den ersten Jahrzehnten seines Bestehens fast ausschließlich aus dem primären Sektor. Als ein für den jungen Balkanstaat charakteristisches Ausfuhrgut ist das zur Parfümherstellung verwendete Rosenöl zu nennen. Im Gegensatz zum Ende des 19. Jahrhunderts spielt dieses Produkt heute nur noch eine zu vernachlässigende Rolle in der Exportbilanz Bulgariens, ist aber ein wichtiges nationales Kulturgut und beliebtes Mitbringsel für die Touristen.
Wie in vielen anderen europäischen Ländern waren die Haushalte auf den bulgarischen Dörfern größtenteils Mehrgenerationenhaushalte. Das Leben einer Großfamilie auf engstem Raum erforderte gegenseitige Rücksichtnahme und Respekt gegenüber den anderen Familienmitgliedern. Dieser Verhaltenskodex war unter anderem wesentlich von den Glaubensnormen der orthodoxen Kirche geprägt. Besonderen Respekt zeigte man gegenüber dem Dorflehrer, dem Geistlichen, der teilweise auch das Amt des Lehrers in Personalunion innehatte, und der älteren Generation. „Meine Großeltern tranken morgens gewöhnlich Kaffee, und es wäre als respektloses Verhalten gewertet worden, wenn wir Jüngeren uns auch einen Schluck aus der Kanne genommen hätten“, erinnert sich eine Bulgarin, die im Vorkriegsbulgarien auf einem Dorf aufwuchs.
Seit Beginn des 20. Jahrhunderts nahm die Bevölkerung Bulgariens kontinuierlich zu, sodass genügend Arbeitskräfte für die Feldarbeit zur Verfügung standen. Allerdings kam es infolge des Bevölkerungszuwachses auch zu einer immer stärkeren Realteilung der Grundstücke, was den ohnehin schon geringen Landbesitz der einzelnen Bauernhöfe noch verkleinerte. Im Jahre 1926 hatte ein bulgarisches Anwesen eine Größe von durchschnittlich 5,73 Hektar.2 Der Großteil der landwirtschaftlichen Erzeugnisse Bulgariens wurde folglich von Klein- und Kleinstbetrieben erwirtschaftet. Diese besaßen oft nicht die finanziellen Mittel, um Arbeitsprozesse zu mechanisieren, weshalb landwirtschaftliche Arbeit größtenteils Handarbeit war. Wegen des geringen eigenen Grundbesitzes ermöglichten die Gemeinden ihren Bewohnern in der Regel die Inanspruchnahme öffentlicher Flächen als Weideland.
Aufgrund der agrarischen Bevölkerungsstruktur überrascht es nicht, dass mit Alexander Stambolijski 1920 der Vorsitzende des bulgarischen Bauernvolksbunds zum Ministerpräsidenten gewählt wurde. Die Agrarier vertraten ein anti-urbanes und anti-industrielles Parteiprogramm. So wurde nach der Wahl Stambolijskis aller Grundbesitz über 30 Hektar neu aufgeteilt. Eine Familie erhielt zehn, eine Einzelperson einen Hektar. Da bereits vor den Umverteilungen ein Großteil der Grundstückseigentümer weniger als 30 Hektar besaß, musste zur Umverteilung auch auf Gemeindeland zurückgegriffen werden, was wiederum das Angebot an öffentlichen Weideflächen verkleinerte. Stambolijski setzte diese Politik gegen den Widerstand von Vertretern der Kirche, des Militärs und des Bürgertums mit Gewalt durch. 1923 wurde er von einer Militärjunta gestürzt und ermordet, seine Landreformen in der Folgezeit wieder rückgängig gemacht. Insgesamt änderten sich die ländlichen Besitzverhältnisse bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs jedoch nur unwesentlich. Am 9. September 1944 erlangten die Kommunisten mit sowjetischer Unterstützung die Macht. Anders als beispielsweise in Deutschland stellten in Bulgarien Industriearbeiter und Stadtbevölkerung am Ende des Zweiten Weltkriegs nur einen geringen Bevölkerungsanteil. In den Nachkriegsjahren war es dann oberste Priorität der sozialistischen Regierung, den Industrialisierungsgrad zu erhöhen und die Infrastruktur des Landes zu verbessern. Im Zuge der Planwirtschaft wurden daher auch in strukturschwachen Regionen Industrieanlagen errichtet.
Als Folge dieser Politik hat sich der Urbanisierungsgrad des Landes 30 Jahre nach Kriegsende mehr als verdoppelt. Lebten ein Jahr nach Kriegsende erst knapp 25 Prozent der Bevölkerung im städtischen Raum, so waren es 1975 bereits 58 Prozent.
Kollektivierung landwirtschaftlicher Nutzflächen nach 1945
Gemeinschaftliche Nutzung landwirtschaftlicher Produktionsflächen in Privatbesitz hat in bulgarischen Dörfern eine Tradition, die bis ins 19. Jahrhundert zurückreicht. Vermutlich auch aufgrund dieser historischen Faktenlage setzte die sozialistische Regierung zunächst auf einen freiwilligen Beitritt der Landwirte zu Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPG). Die Realität sah, wenn man bei der folgenden Äußerung eines Dorfbewohners genau hinhört, doch etwas anders aus: „Selbstverständlich musste man nicht LPG-Mitglied werden, es sei denn, man wollte sich etwas zum Anziehen leisten können.“ Trotz aller Vergünstigungen bedurfte es nicht nur finanzieller Anreize, sondern teilweise auch gezielter Einschüchterungen seitens örtlicher Parteivorsteher, um alle Bauern zum Beitritt in die LPG und damit de facto zur Aufgabe ihres Privateigentums zu bewegen. Schließlich war Bulgarien das zweite Land nach der Sowjetunion, das im Jahre 1956 die Kollektivierung landwirtschaftlicher Flächen vollendete.
Trotz der weitverbreitenden Skepsis, mit der diese Entwicklung aufgenommen wurde, gab es insbesondere unter der jüngeren Generation auch Befürworter, da viele von ihnen von der moralischen Pflicht befreit wurden, den elterlichen Bauernhof zu übernehmen. In Verbindung mit den neuen Bildungsmöglichkeiten, z. B. der Aufnahme eines Studiums, eröffnete sich zugleich die Möglichkeit, einer Tätigkeit im sekundären oder tertiären Sektor nachzugehen. Dies wiederum lag im Interesse der von der politischen Führung angestrebten gesamtwirtschaftlichen Umstrukturierung, gehörte aber auch schon zu den Idealen der Wiedergeburtsära, wonach die Landbewohner sich durch Bildung von der Feldarbeit emanzipieren und Eingang zu der damals sehr kleinen Schicht des Bürgertums finden sollten.3
Durch die LPG-Bildung sollte die so genannte Skalenökonomie (d. h. Kostenvorteile durch Massenproduktion) in der Landwirtschaft möglich werden. Erreicht wurde dies durch Anschaffung von Erntemaschinen, deren Einsatz die Stückkostenzahl für landwirtschaftliche Produkte erheblich senken sollte. Ein großer Teil Zentral- und Südwestbulgariens besteht jedoch aus Gebirgslandschaften, in denen der Einsatz von Traktoren nur eingeschränkt möglich ist. In solchen Regionen wurden oft Obst und Früchte wie Pflaumen oder Himbeeren angepflanzt, die auch weiterhin von Hand geerntet werden mussten. Wichtigste Getreideanbauregion Bulgariens ist die im Nordosten gelegene „Kornkammer“ Bulgariens, die Dobrudscha. Dort entstanden im Zuge der Kollektivierung landwirtschaftlicher Flächen riesige Weizenfelder, die im Sommer von Mähdrescherkolonnen abgeerntet wurden. Sehr wertvoll für die bulgarische Landwirtschaft ist auch der Südosten des Landes, wo fruchtbares Ackerland auf zahlreiche Sonnentage trifft und deshalb zweimal pro Jahr geerntet werden kann. Weite Teile des ehemaligen Ostblocks wurden von hier aus mit Tomaten, Gurken und auch Spinat versorgt. Diese Tatsache soll jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die zentralistische Führung landwirtschaftlicher Betriebe durch den Parteiapparat diverse Ineffizienzen herbeiführte, die mitverantwortlich für den wirtschaftlichen Zusammenbruch des „real existierenden Sozialismus“ waren.
Trotz der landwirtschaftlichen Kollektivierung betrieben bulgarische Dorfbewohner gewöhnlich weiterhin Obst-, Gemüseanbau und Viehhaltung für den privaten Gebrauch, unabhängig davon, ob sie in der Landwirtschaft beschäftigt waren oder anderen Berufen nachgingen. Das ermöglichte eine kontinuierliche Versorgung mit qualitativ hochwertigen Lebensmitteln in Zeiten der Mangelwirtschaft, wovon oft auch Verwandte der Dorfbevölkerung profitierten, die in städtischen Gegenden wohnten. Dieses Phänomen wurde von einer kanadischen Ethnologin als „Konservenökonomie“4 bezeichnet. Auch nach der Wende sicherte diese Art der Lebensmittelversorgung vielen Familien das tägliche Brot, was mit den geringen Einkommen allein nicht erschwinglich gewesen wäre.
Reprivatisierung in den Nachwendejahren
Nach dem Abschluss des Systemwechsels im Jahr 1991 durch die Verabschiedung einer demokratischen Verfassung zählte die Durchführung der Reprivatisierung landwirtschaftlicher Flächen zu den wichtigsten Streitpunkten zwischen den Sozialisten (der offiziellen Nachfolgepartei der Kommunisten) und der Ende der achtziger Jahre entstandenen „Union der Demokratischen Kräfte“ (UDK).5 Grundsätzlich erhielten alle Familien, die vor der Kollektivierung Land besessen hatten, ihr Eigentum in den Grenzen der ursprünglichen Grundbucheintragungen zurück.
Die Sozialisten befürworteten eine Beibehaltung der LPG als Zusammenschluss von unabhängigen Privateigentümern. Die UDK sah darin einen Versuch, weiterhin politische Kontrolle über die LPG auszuüben, und votierte daher für deren Auflösung. Zwischen 1990 und 1997 wechselte die Regierungsverantwortung viermal zwischen den Sozialisten und der UDK – mit jedem Regierungswechsel wurden die Konzepte zur landwirtschaftlichen Reorganisation geändert. Letztendlich setzte Ende der neunziger Jahre vielerorts eine Zerschlagung der Produktionsgenossenschaften ein. Ironischerweise hielten jedoch viele Landbewohner, die in den vierziger Jahren die Kollektivierung abgelehnt hatten, den Gedanken, ihren ursprünglichen Landbesitz wieder selbstständig zu bewirtschaften, für keine gute Idee. Die Bewohnerin eines im Nordwesten gelegenen Dorfes äußerte sich folgendermaßen: „Was sollen wir mit dem Land machen? ... Früher, als ich noch gesund war und es noch möglich war, das Land mit den eigenen Händen zu bebauen, nahmen sie es mir weg … Jetzt, wo ich alt und kaputt bin, wollen sie es zurück geben … Vergiss es, eine Dummheit … Es ist, als ob man ein zweites Mal ins Gesicht geschlagen wird.“6 Viele, die nach der Reprivatisierung ihr Land zurück erhalten hatten, stiegen aus der Landwirtschaft aus, weil sich die Bewirtschaftung der kleinen Flächen nicht lohnte und die meisten keine Mittel hatten, um in zusätzliches Land, Erntemaschinen oder moderne Ställe zu investieren. Aus dem gleichen Grund war die Nachfrage zum Kauf oder zum Pachten von Ackerland sehr gering, weshalb es oft brachliegend im ursprünglichen Besitz verblieb. Erschwerend kam hinzu, dass sich der Absatz von Agrarprodukten im Ausland durch den Wegfall der Abnehmermärkte im ehemaligen Ostblock erschwerte. Die Europäische Union (EU) ist ein schwieriger Alternativmarkt, da hier seit Jahrzehnten eine Überproduktion von Agrarprodukten vorherrscht.
Marginalisierung des bulgarischen Dorfs im 21. Jahrhundert?
Bei der im Frühjahr 2011 durchgeführten Volkszählung wurde festgestellt, dass die Bevölkerung Bulgariens in den letzten zehn Jahren um 600.000 Einwohner zurückgegangen ist. Damit setzte sich ein Trend fort, der sich bereits Ende der achtziger Jahre abgezeichnet hatte. Zurzeit leben 7,4 Millionen Einwohner in der ungefähr 110.000 Quadratkilometer großen Republik; das entspricht der Einwohnerzahl der fünfziger Jahre – allerdings ist jetzt jeder vierte Einwohner im Rentenalter.7 Trotz des allgemeinen Bevölkerungsrückgangs wuchs die Einwohnerzahl in der Hauptstadt Sofia und in der Region um die Schwarzmeermetropole Varna. In den ländlichen Regionen meldeten die Einwohnermeldeämter hingegen umso stärkere Rückgänge der ortsansässigen Bevölkerung. Da einige Migranten, die ihre Dörfer verließen, um in Sofia oder im Ausland zu arbeiten, als Einwohner ihrer Heimatorte registriert blieben, dürfte der reale Bevölkerungsrückgang auf dem Land noch höher sein, als es die offiziellen Zahlen vermuten lassen. Den größten Einwohnerrückgang verzeichneten die nordwestlichen Bezirke Vidin und Vraza, wo die Bevölkerung in zehn Jahren um fast 24 Prozent schrumpfte. Hier ist die Infrastruktur besonders schwach entwickelt, unter anderem deshalb, weil es keine Brücke über die Donau gibt, die den Verkehr und den Handel mit dem benachbarten Rumänien beleben würde. Die Küstenregionen und Teile der südlichen Landstriche sind hingegen weniger vom Einwohnerrückgang betroffen, da sich hier die beliebtesten Urlaubsorte der Balkanrepublik befinden und diese Regionen am meisten vom Tourismus profitieren.
Aus den genannten Gründen sank natürlich auch der Anteil der ländlichen Gegenden an der gesamtwirtschaftlichen Leistungsbilanz Bulgariens in den Nachwendejahren. Hiermit einher ging außerdem eine Verschlechterung der Infrastruktur vieler Dörfer. Jedem Besucher fallen Belege hierfür ins Auge. Ehemalige Bushaltestellen zeugen davon, dass es früher einmal so etwas wie öffentlichen Personennahverkehr in Orten gab, die heute im wahrsten Sinne des Wortes vom Aussterben bedroht sind. Bereits heute geht in einigen Dörfern die Einwohnerzahl gegen Null. Im Bezirk Vidin beispielsweise befinden sich zwei Ortschaften, in denen niemand mehr lebt. Höchstwahrscheinlich wird sich die Anzahl dieser „Geisterdörfer“ in den nächsten Jahren erhöhen.
Exkurs: Impressionen zur Situation der bulgarischen orthodoxen Kirche im ländlichen Raum
Es ist kurz vor Weihnachten, ich befinde mich im Gespräch mit Diljan, einem orthodoxen Popen. Er ist in der Gegend um Vraza tätig, einer der beiden Bezirke im Nordwesten, in denen die Bevölkerung am stärksten zurückgegangen ist. Diljan, der neben einer Kleinstadt auch zwei Dorfgemeinden betreut, erlebt diesen Strukturwandel bei seiner täglichen Arbeit. Unter seinen Gemeindemitgliedern kommen auf ungefähr 80 jährliche Beerdigungen nur vier Taufen. Da bei diesen kirchlichen Zeremonien am Lebensanfang und Lebensende oft von den Anwesenden für den Pfarrer gespendet wird, sind sie für bulgarische Geistliche auch wichtige Beiträge zum finanziellen Überleben. Deren monatliches Gehalt beträgt in der Regel lediglich 300 Leva (ungefähr 150 €). Neben Spenden bieten die Verpachtung kircheneigener Landflächen und Gebäude und der Verkauf von Kerzen Möglichkeiten für zusätzliche Einkommen für die Kirche. „Es ist eines Geistigen nicht würdig, wenn er neben der kirchlichen Arbeit kaufmännisch tätig sein muss“, gibt Diljan zu bedenken. Gleichzeitig merkt man ihm an seiner Lebensfreude und Ausgeglichenheit an, dass er es trotz aller Widrigkeiten nicht bereut, bereits in den achtziger Jahren Pope geworden zu sein. Damals galten Mitglieder der Kirche offiziell als Feinde des Kommunismus, und nicht selten waren Familienmitglieder eines Geistlichen Repressionen unterschiedlichster Art ausgesetzt. Taufen wurden, wenn überhaupt, geheim zu Hause durchgeführt.
Trotz der gealterten Bevölkerungsstruktur im ländlichen Raum, kommen in den Dörfern, die Diljan betreut, regelmäßig Kinder zu der nach dem Gottesdienst stattfindenden Sonntagsschule. Da er sich um drei Gemeinden gleichzeitig kümmert, finden die Gottesdienste wie in vielen bulgarischen Dörfern in der Regel im Wechsel zwischen den Ortschaften statt. An orthodoxen Feiertagen, wenn mehr Menschen die Kirche besuchen, hält Diljan jedoch in jeder der drei Gemeinden zu unterschiedlichen Uhrzeiten eine Liturgie. Viele bulgarische Priester gehen ihrer Tätigkeit mit einer ähnlichen Ausdauer nach. Mir ist aber auch ein Dorf bekannt, in dem der Pope sich zur Auswanderung entschloss, um in Westeuropa auf dem Bau zu arbeiten.
Um mir einen Eindruck über die Situation der muslimischen Minderheit zu machen, die nach den orthodoxen Christen die zweitstärkste Glaubensgruppe im Lande bilden, spreche ich auch mit einem islamischen Geistlichen, der in Zentralbulgarien tätig ist. Die Moschee, in der wir uns treffen, wurde während des „real existierenden Sozialismus“ kurzerhand zur Psychiatrie umfunktioniert. Die türkischsprachige sunnitische Minderheit Bulgariens lebt größtenteils in Dörfern, die sich im östlichen Landesteil befinden. Es sind insbesondere die jungen Menschen, die sich in diesen Ortschaften regelmäßig zum Freitagsgebet versammeln. Mein Gesprächspartner bestätigt mir, dass die junge Generation religiöser als ihre Eltern ist. In der orthodoxen Kirche scheinen hingegen ältere Frauen die treuesten Kirchgänger zu sein.
Zurück zur „Konservenökonomie“?
Bulgarien war über viele Jahrhunderte ein Land der Kleinstbauern, in dem die Landwirtschaft als wichtigster Wirtschaftssektor dominierte. Auch in der jüngeren Vergangenheit war der Agrarsektor wichtige Versorgungsquelle. Als der bulgarische Premierminister Bojko Borisov in einem Fernsehinterview im März dieses Jahres auf die Verteuerung der Lebensmittel angesprochen wurde, machte er den Vorschlag, die Menschen sollten selber Kartoffeln anpflanzen, falls ihnen diese im Geschäft zu teuer wären. Seine eigene Mutter sei Lehrerin gewesen, doch das hätte sie nicht davon abgehalten, bei der Kartoffelernte zu helfen: „Ich kann Ihnen gerne erklären, wie man Kartoffeln pflanzt, falls Sie das nicht wissen“, sagte Borisov zu der von diesem Vorschlag sichtlich überraschten Moderatorin.8 Dieser Appell zur „Konservenökonomie“ verkennt jedoch die Tatsache, dass mittlerweile die arbeitende Bevölkerung größtenteils im städtischen Raum lebt. Aufgrund des gestiegenen Urbanisierungsgrads wird es zunehmend schwieriger werden, wirtschaftlichen Versorgungskrisen mit Selbstversorgung zu begegnen.
Fazit Auch um der Landflucht entgegen zu wirken, wird es wichtig sein, die landwirtschaftliche Produktion in Bulgarien in Zukunft wieder auf ein höheres Niveau zu heben. In vielen ländlichen Regionen bestehen außerdem Entwicklungspotenziale für den Tourismus, der sich heute größtenteils auf die Schwarzmeerregion und einige wenige Wintersportorte konzentriert. Hingegen warten im Landesinnern viele Luftkurorte, Thermalbäder und historische Stätten auf ihre „Entdeckung“ durch westliche Touristen. Hierfür wäre allerdings eine Modernisierung des Straßennetzes und anderer Teile der maroden Infrastruktur notwendig – Aufgaben, die der Staat dringend in Angriff nehmen muss, wenn diese Regionen eine Zukunft haben sollen.
Fußnoten:
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Vom Spätmittelalter bis weit ins 19. Jahrhundert war Bulgarien Bestandteil des Osmanischen Reiches. Kultur, Traditionen und auch ländliche Strukturen wurden dadurch maßgeblich geprägt. Vgl. zum Ganzen die Beiträge des Themenheftes „Bulgarien“ von OST-WEST. Europäische Perspektiven (10 [2009], H. 4). ↩︎
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Vgl. zum Folgenden ausführlich Gerald W. Creed: Domesticating Revolution – From Socialist Reform to Ambivalent Transition in a Bulgarian Village. Pennsylvania State University 1998. ↩︎
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Als „Wiedergeburt“ wird in Bulgarien die Wiedererlangung der nationalen Identität im 18. Jahrhundert bezeichnet. Dieser Prozess gilt als eine Voraussetzung für die Erlangung der Autonomie und späteren Unabhängigkeit vom Osmanischen Reich im 19. Jahrhundert. ↩︎
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Vgl. Eleanor Smollet: The Economy of Jars: Kindred Relationships in Bulgaria – An Exploration.¬ In: Ethnologia Europea 19 (1989), S. 125-140. ↩︎
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Zur Parteienstruktur Bulgariens vgl. auch Tim Graewert: Schlaglichter auf das bulgarische Wahljahr 2009. In: OST-WEST. Europäische Perspektiven 10 (2009), H. 4, S. 255-261 (der gedruckten Ausgabe). ↩︎
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Creed (wie Anm. 2), S. 220. ↩︎
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Dazu „B-TV reporteri“ (Fernsehdokumentation vom 09.04.2011). – Zur Bevölkerungsentwicklung Bulgariens folgende Eckdaten (in Millionen Einwohner): 1900 – 3,7; 1920 – 4,9; 1946 – 7,0; 1975 – 8,7; 1992 – 8,5; 2011 – 7,4 (Quelle: http://www.nsi.bg/census2011/pagebg2.php?p2 =36&sp2=37&SSPP2=38; letzter Zugriff: 05.05.2011; Link mittlerweile inaktiv!). ↩︎
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http://www.razkritia.com/88070/бойко-садете-си-сами-картофи-щом-са ви/ (letzter Zugriff: 06.05.2011; Link mittlerweile inaktiv!). ↩︎